Das Geheimnis von Mulberry Hall
und an seine Stelle war ein Mann getreten, dessen unverhohlener Abscheu Lexie wie eine Ohrfeige traf.
Ratlos schüttelte sie den Kopf. „Ich möchte versuchen, es dir zu erklären, Lucan.“
„Dann rate ich dir, es gleich zu tun. Sofort!“, setzte er laut hinzu. „Ein guter Anfang wäre, mir den Namen der Frau hier auf dem Foto zu nennen.“
Mit zitternden Knien wich sie ein paar Schritte zurück und setzte sich auf die Bettkante.
Ursprünglich wollte sie doch nur drei Tage für die St. Claire Corporation arbeiten, um ihre Neugier in Bezug auf diese Familie endlich zu befriedigen. Die Gelegenheit war einfach so günstig und verlockend gewesen. Anschließend hatte Lexie vorgehabt, wieder im Hintergrund zu verschwinden – hoffentlich um eine wichtige Erfahrung reicher. Doch seit sie Lucan näher kennengelernt hatte, wusste sie, wie gefährlich es für sie werden konnte, wenn er die Wahrheit über ihre Identität erfuhr. Die Wahrheit über Sian Thomas.
Noch viel gefährlicher wurde es, als sie sich ernsthaft in ihn verliebte.
Lucan sah sie mit so viel Verachtung an, dass ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief.
„Spuck es aus, verdammt noch mal!“, verlangte er.
Lexie leckte sich hektisch über die Lippen. „Ihr Name ist Sian Thomas.“
„Lauter, Lexie!“ Er wirkte vollkommen verändert und stachelte damit ihre Abwehr an. Inzwischen war ohnehin alles verloren.
Sie hob ihr Kinn. „Das ist Sian Thomas, meine Großmutter.“ Heiße Tränen drängten sich aus ihren Augenwinkeln.
Zischend holte Lucan Luft. Das hatte er bereits vermutet, oder eher gesagt, befürchtet. Die Frau, die sein Vater mehr als alles andere geliebt hatte. Die Frau, wegen der die St. Claire-Familie vor fünfundzwanzig Jahren in alle Einzelteile zerfallen war.
Sian Thomas.
Kaum zu glauben: Sie war Lexies Großmutter.
Er hatte gewusst, dass Sian Thomas Witwe war, als sein Vater sie damals kennenlernte, und dass sie eine neunzehn Jahre alte Tochter hatte. Aber nie hatte er daran gedacht, dass diese Tochter vielleicht auch mal heiraten und ein Kind bekommen würde. Warum auch?
Überwältigt von seinen Gefühlen, drehte Lucan sich auf dem Absatz um und flüchtete sich ans Fenster. Mit dem Rücken zu Lexie gewandt, kämpfte er um seine Fassung und betrachtete dabei unablässig das Schmuckstück in seiner Hand.
Lieber Gott, sein grauhaariger Vater und Lexies grazile, hübsche Großmutter – das hätten genauso gut er und Lexie in etwa dreißig Jahren sein können. Die Ähnlichkeiten waren nahezu unheimlich.
„Lucan …“
„Sag bitte erst mal gar nichts, Lexie“, unterbrach er sie mit merkwürdig verzerrter Stimme.
„Alexandra.“
Mit einem Ruck fuhr er herum. „Was?“
Es machte ihr fast Angst, wie verstört und angespannt er wirkte. „Mein voller Name ist Alexandra Claire Hamilton. Ich wurde nach meinem Stiefgroßvater benannt“, fügte sie überflüssigerweise hinzu.
Seine Augen waren inzwischen rabenschwarz. „Soweit ich weiß, hat mein Vater deine Oma nie geheiratet.“
„Stimmt“, gab sie zu und vermerkte im Geiste, dass er diese Feststellung als Beleidigung gemeint hatte. „Trotzdem nannte meine Mutter ihn Papa Alex, und für mich war er eben Grandpa Alex.“
Lucans Nasenflügel bebten. „Mein Vater war der Duke von Stourbridge.“
„Glaubst du, das war der Grund, warum die beiden niemals geheiratet haben?“
„Warum wohl sonst?“, argumentierte er wütend. „Es hätte nicht funktioniert. Der angesehene Duke, verheiratet mit einer …“
„Wage es nicht, meine Großmutter in den Dreck zu ziehen!“, warnte Lexie ihn. „Wage es ja nicht, Lucan! Ob die beiden nun verheiratet waren oder nicht, für mich ist er immer Grandpa Alex gewesen.“
Mit beiden Händen rieb Lucan sich die Stirn. „Und wann wolltest du mir diese kleine Geschichte endlich mitteilen?“
Dies war die sprichwörtliche Stunde der Wahrheit. „Überhaupt nicht“, beichtete sie mit leiser Stimme.
„Das glaube ich dir nicht.“
Verzweifelt verschränkte sie die Finger ineinander. „Ich habe das alles wirklich nicht geplant, Lucan. Es ist … einfach so passiert.“
„Du willst mir doch nicht weismachen, dass du keine Ahnung hattest, wer ich bin, als du in meinem Büro auf mich gewartet hast?“
„So habe ich das auch nicht gemeint.“ Ihr fehlten die richtigen Worte. „Sicherlich wusste ich, mit wem ich es zu tun habe. Aber ich hatte nie vor, dir meine Verbindung mit Sian Thomas darzulegen. Ich war doch nur
Weitere Kostenlose Bücher