Das Geheimnis von Orcas Island
sich nicht auf gefühlsmäßige Bindungen ein. Sie hatte den besten Beweis vor sich.
Charitys Mutter hatte sich einem Vagabunden zugewandt und ihm ihr Herz, ihr Vertrauen, ihren Körper geschenkt. Sie war schließlich schwanger und allein zurückgeblieben. Monatelang hatte sie ihm nachgetrauert. Sie war im selben Krankenhaus gestorben, in dem ihr Baby geboren worden war, nur wenige Tage später. Betrogen, verlassen und beschämt.
Erst nach dem Tod ihres Großvaters hatte Charity das Ausmaß der Beschämung entdeckt. Er hatte das Tagebuch ihrer Mutter aufbewahrt. Charity hatte es verbrannt, nicht aus Scham, sondern aus Mitleid. Sie würde ihre Mutter stets als eine tragische Gestalt ansehen, die Liebe gesucht und nicht gefunden hatte.
Aber ich bin nicht wie meine Mutter, sagte sie sich, während sie wach lag und dem Regen lauschte. Sie war weit weniger zerbrechlich. Ihr Leben lang hatte sie die wärmende Liebe gespürt.
Nun war ein Vagabund in ihr Leben getreten. Er hatte von Reue gesprochen, wie sie sich erinnerte. Und sie befürchtete, dass sie bereuen würde, was auch immer zwischen ihnen geschehen mochte – oder auch nicht geschehen mochte.
4. K APITEL
Der Regen hielt den ganzen Morgen an, sanft, gemächlich, beständig. Er brachte Kälte mit sich und eine Düsterkeit, die nicht weniger reizvoll wirkte als Sonnenschein. Wolken hingen über dem Wasser, verwandelten alles in verschiedene Grautöne. Regentropfen prasselten auf das Dach und an die Fenster, ließen das Gasthaus umso abgeschiedener wirken. Gelegentlich frischte der Wind auf, rüttelte an den Fensterscheiben.
Im Morgengrauen beobachtete Ronald, wie Charity, in eine Windjacke gehüllt, Ludwig zu seinem morgendlichen Lauf ausführte. Und er sah sie vierzig Minuten später tropfnass zurückkommen. Er hörte die Musik in ihrem Zimmer erklingen, nachdem sie durch den Hintereingang hinaufgegangen war. Diesmal hatte sie etwas Ruhiges mit vielen Geigen gewählt. Er bedauerte es, als die Musik aufhörte und Charity den Flur entlang zum Speisesaal eilte.
Von seiner Position im zweiten Stock konnte er das Treiben in der Küche nicht hören, aber er konnte es sich vorstellen. Mae und Dolores würden sich zanken, während Waffeln und Brötchen gebacken wurden. Charity würde hastig eine Tasse Kaffee trinken, bevor sie hinauseilte, um der Kellnerin beim Decken der Tische zu helfen und das Morgenmenü aufzuschreiben.
Ihr Haar war gewiss feucht und ihre Stimme ruhig, während sie Dolores’ tägliche Beschwerden beschwichtigte. Sie roch bestimmt nach Regen. Wenn die Frühaufsteher kamen, würde sie lächeln, sie mit Namen begrüßen und ihnen das Gefühl vermitteln, eine Mahlzeit im Haus eines alten Freundes einzunehmen.
Das ist ihr größtes Geschick, überlegte Ronald. Einem Fremden das Gefühl zu geben, zu Hause zu sein.
Konnte sie so unkompliziert sein, wie sie wirkte? Ein Teil von ihm wollte es unbedingt glauben. Ein anderer Teil von ihm fand es unmöglich. Er hätte den Kuss am Vorabend nicht als unkompliziert bezeichnet. Es schien widersprüchlich, dass eine Frau mit so beruhigendem Blick und so sanfter Stimme von einer derart tobender Leidenschaft ergriffen werden konnte. Dennoch war es geschehen. Vielleicht war ihre Leidenschaft ebenso gespielt wie ihre ruhige Gelassenheit.
Es ärgerte ihn. Allein die Erinnerung an seine hilflose Reaktion auf sie machte ihn wütend. Deshalb zwang er sich, die Lage weiter zu analysieren. Wenn er sich von dem angezogen fühlte, was Charity zu sein schien, dann war es nur einleuchtend. Er führte ein einsames und oft turbulentes Leben. Obgleich er es sich ausgesucht hatte und so bevorzugte, war es nicht ungewöhnlich, dass er sich zu einer Frau hingezogen fühlte, die all das repräsentierte, was er nie gehabt hatte. Und nie gewollt hatte, sagte er sich.
Er hatte nicht vor zu behaupten, in Charity irgendwelche Antworten gefunden zu haben. Die einzigen Antworten, die er suchte, betrafen seinen Job.
Erst einmal wollte er abwarten, bis der allmorgendliche Ansturm vorüber war. Erst wenn Charity dann in ihrem Büro beschäftigt war, würde er in die Küche hinuntergehen und sich von Mae Frühstück geben lassen.
Da ist eine Frau, die mir nicht traut, dachte Ronald mit einem Grinsen. Sie hatte keine einzige naive Ader in ihrem üppigen Körper. Und abgesehen von Charity gab es niemanden, da war er sicher, der die Vorgänge im Gasthaus besser kannte als sie.
Ja, er würde sich Mühe geben und seinen Charme bei Mae
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