Das Geheimnis von Orcas Island
spielen lassen. Und er beabsichtigte, eine gewisse Distanz zu Charity zu wahren. Vorläufig.
»Du siehst ziemlich verhärmt aus heute Morgen.«
»Oh, herzlichen Dank.« Charity unterdrückte ein Gähnen, während sie sich eine Tasse Kaffee einschenkte. Verhärmt war nicht der richtige Ausdruck. Sie war erschöpft bis auf die Knochen. Ihr Körper war es nicht gewöhnt, mit nur drei Stunden Schlaf zu funktionieren. Das habe ich Ronald zu verdanken, dachte sie.
»Setz dich.« Mae deutete zum Tisch. »Ich brate dir Eier.«
»Ich habe keine Zeit. Ich …«
»Setz dich«, wiederholte Mae und wedelte mit einem Holzlöffel. »Du brauchst Nahrung.«
»Mae hat Recht«, warf Dolores ein. »Nur mit Kaffee kann ein Körper nicht arbeiten. Du brauchst Proteine und Kohlenhydrate.« Sie stellte ein Rosinenbrötchen auf den Tisch. »Wenn ich nicht genügend Proteine zu mir nehme, fühle ich mich ganz schwach.« Im Moment gefiel es ihr genauso, sich um Charity zu sorgen, wie um sich selbst. »Sie könnte knusprigen Schinken zu den Eiern gebrauchen, Mae. Das ist meine Meinung.«
»Ich brate ihn schon.«
Charity setzte sich, da sie in der Minderheit war. Die beiden Frauen konnten streiten, aber wenn es um eine gemeinsame Sache ging, hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel. »Ich bin nicht verhärmt«, verteidigte sie sich. »Ich habe nur nicht gut geschlafen.«
»Ein warmes Bad vor dem Schlafengehen«, verordnete Mae, als der Schinkenspeck in der Pfanne brutzelte. »Nicht heiß. Lauwarm.«
»Mit Badesalz. Nicht Schaum oder Öl«, fügte Dolores hinzu und stellte ein Glas Saft auf den Tisch. »Gutes, altmodisches Badesalz. Stimmt’s nicht, Mae?«
»Könnte nicht schaden.« Mae war zu sehr um Charity besorgt, um an Streit zu denken. »Du arbeitest zu viel, Mädchen.«
»Das stimmt«, sagte Charity, weil es der einfachste Weg war. »Und ich habe keine Zeit zu einem gemächlichen Frühstück, weil ich mich um eine neue Kellnerin kümmern muss, damit ich nicht mehr so viel arbeiten brauche. Ich habe eine Annonce in die heutige Morgenzeitung gesetzt. Also müssten bald Anrufe kommen.«
»Ich habe Bob aufgetragen, die Annonce zu stornieren«, verkündete Mae und schlug ein Ei in die Pfanne.
»Was? Warum?« fuhr Charity auf. »Verdammt, wenn du glaubst, dass ich Mary Alice wieder einstelle, nachdem …«
»Keineswegs, und beschimpfe mich nicht, junge Dame.«
»Gereizt.« Dolores schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Das kommt davon, wenn man zu viel arbeitet.«
»Es tut mir Leid«, murmelte Charity. »Aber Mae, ich habe damit gerechnet, bis Ende der Woche eine neue Kraft zu haben.«
»Die Tochter meines Bruders hat ihren nichtsnutzigen Ehemann in Toledo verlassen und ist nach Hause zurückgekommen. Bonnie ist ein gutes Mädchen. Hat hier ein paar Mal im Sommer gearbeitet, während sie zur Schule ging.«
»Ja, ich erinnere mich. Sie hat einen Musiker geheiratet.«
Mit finsterer Miene nahm Mae die Eier aus der Pfanne. »Saxophonbläser«, sagte sie, so als erkläre das alles. »Sie war es leid, im Wohnwagen herumzuziehen, und ist vor ein paar Wochen nach Hause gekommen. Sie sucht Arbeit.«
Mit einem Seufzer strich Charity sich durch das Haar. »Warum hast du mir das nicht vorher gesagt?«
»Vorher hast du niemanden gebraucht.« Mae stellte die Eier auf den Tisch. »Jetzt brauchst du jemanden.«
Charity blickte auf, als Mae den Herd zu säubern begann. Das Herz der Köchin war so groß wie alles andere an ihr. »Wann kann sie anfangen?«
Mae räusperte sich. »Ich habe ihr gesagt, dass sie heute Nachmittag vorbeikommen soll, damit du sie dir ansehen kannst. Ich erwarte nicht, dass du sie einstellst, wenn sie dir nicht zusagt.«
»Nun, dann.« Charity griff zur Gabel. Erfreut, dass eine Aufgabe erledigt war, streckte sie die Beine aus und legte die Füße auf einen leeren Stuhl. »Ich habe wohl doch Zeit fürs Frühstück.«
Ronald trat durch die Schwingtür und fluchte beinahe laut. Er hatte angenommen, dass Charity inzwischen einer ihrer Dutzenden Pflichten nachging. Stattdessen saß sie in der warmen, duftenden Küche, fast wie am Vorabend. Mit einem verräterischen Unterschied: Sie war nun nicht entspannt.
Ihr Lächeln schwand in dem Moment, als er eintrat. Langsam nahm sie die Füße vom Stuhl und richtete sich auf. Er sah, wie sich ihr Körper versteifte, beinahe Muskel für Muskel. Ihre Gabel hielt auf halbem Wege zum Mund inne. Dann wandte sie sich ein wenig von ihm ab und aß weiter. Die Geste kam wohl
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