Das Geheimnis von Sittaford
abfassen», versicherte Emily und ging mit ihrem leichten, federnden Schritt zum Schreibtisch.
Mein lieber James,
alles wird gut werden, verlier nur nicht den Mut. Ich schufte schlimmer als ein Nigger, um die Wahrheit herauszufinden. Was für ein heilloser Idiot bist du doch gewesen, Darling!
Immer
Deine Emily
«So, das genügt», sagte sie und reichte Mr Dacres den Brief.
Der Anwalt las ihn, doch enthielt er sich jeder Bemerkung.
«Ich habe mir mit meiner Handschrift alle Mühe gegeben, damit die Gefängnisverwaltung sie leicht entziffern kann. Und nun muss ich fort.»
«Wollen Sie nicht noch eine Tasse Tee trinken, Kind?»
«Keine Zeit, Mr Dacres. Ich gehe jetzt zu Tante Jenny.»
Aber das plumpe Mädchen, das Miss Trefusis die Tür von Mrs Gardners verwahrlostem Haus öffnete, erklärte, dass die Herrin nicht daheim sei, aber bald zurückkehren würde.
Emily spendete ein gönnerhaftes und gewinnendes Lächeln.
«Dann möchte ich drinnen warten», sagte sie.
«Wollen Sie die Schwester sprechen?»
Miss Trefusis war gewillt, jedweden zu sprechen, und verkündete ihre Absicht durch ein lautes Ja. Ein paar Minuten später erschien Schwester Anna, steif und zurückhaltend.
«Ich bin Emily Trefusis – eine künftige Nichte von Mrs Gardner», stellte Emily sich vor. «Leider ist mein Verlobter, James Pearson, wie Sie sicher inzwischen erfahren haben, verhaftet worden.»
«Ja, wir haben es in den Morgenzeitungen gelesen. Wie schrecklich!», klagte die Schwester. «Sie scheinen Ihr hartes Geschick bewundernswert tapfer zu tragen, Miss Trefusis – wirklich bewundernswert!» Eine versteckte Missbilligung schwang in ihrer Stimme.
«Was nützte es, wenn mir die Knie einknickten?», gab Emily zurück. «Hoffentlich ist es Ihnen nicht peinlich, in einer Familie zu arbeiten, die einen Mörder zu den ihren zählt?»
«Natürlich ist es sehr unerfreulich», erwiderte die Pflegerin. «Aber die Pflicht gegenüber dem Patienten geht allem vor.»
«Wie großzügig gedacht…! Für Tante Jenny muss es ein gutes Gefühl sein, jemanden um sich zu haben, dem sie vertrauen kann.»
«Sie sind zu liebenswürdig, Miss Trefusis. Doch selbstverständlich bleiben einem seltsame Erfahrungen nicht erspart. Auf meiner letzten Stelle…»
Geduldig lauschte Emily einem langen und anstößigen Bericht, in dem eine verwickelte Scheidung und eine angezweifelte Vaterschaft die Hauptrolle spielten, und lenkte dann, nachdem sie die Schwester wegen ihres Taktes und ihrer Verschwiegenheit gelobt hatte, geschickt wieder auf das Thema Gardner zurück.
«Tante Jennys Gatten kenne ich gar nicht. Er geht wohl nie aus?»
«Nein. Der Ärmste!»
«Was fehlt ihm eigentlich?»
Schwester Anna erörterte den Fall mit berufsmäßiger Gründlichkeit.
«Ah! Dann könnte Mr Gardner also von einer Minute zur anderen wieder völlig gesund werden?», murmelte Emily nachdenklich.
«Er würde immerhin sehr schwach sein.»
«Gewiss. Dennoch ist es kein hoffnungsloses Siechtum.»
Aber die Schwester schüttelte traurig den Kopf.
«Ich glaube nicht an eine Heilung.» Und plötzlich warf sie einen Blick auf ihre Uhr. «Oh, ich muss wieder zu ihm, er bat um eine neue Wärmflasche. Entschuldigen Sie mich, Miss Trefusis.»
Emily entschuldigte sie gern, ging hinüber zum Kamin und zog ihr Büchlein aus der Tasche, in dem auch Tante Jennys Alibi verzeichnet war. Dann drückte sie auf den Klingelknopf.
«Wie heißen Sie?» erkundigte sie sich, als das Mädchen hereingeschlurft kam.
«Betty, Miss.»
«Ich kann nicht länger auf meine Tante warten, Betty; schließlich wollte ich sie ja auch nur etwas wegen des Einkaufs am Freitag fragen. Wissen Sie zufällig, ob sie ein großes Paket mitbrachte?»
«Nein, Miss, denn ich sah sie nicht zurückkommen.»
«Ich dachte, Sie hätten gesagt, dass sie gegen sechs Uhr heimgekehrt sei.»
«Ja, Miss. Doch ich sah sie nicht kommen. Aber als ich gegen sieben heißes Wasser in ihr Zimmer stellen wollte, bin ich furchtbar erschrocken, weil sie im Dunkeln auf dem Bett lag.
‹Mein Gott, Madam, hab ich mich erschrocken›, habe ich zu ihr gesagt, und sie hat geantwortet: ‹Ich bin schon seit sechs Uhr zurück.› Aber ein großes Paket habe ich wirklich nirgends gesehen», versicherte Betty, die sich so gern hilfreich erweisen wollte.
«Nun, es ist nicht so wichtig», meinte Emily, während sie im Stillen über all die Notlügen seufzte, zu denen man gezwungen war. «Ich will noch ein wenig warten, vielleicht
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