Das Geheimnis von Sittaford
jemandem beobachtet werden? Mir ist, als ob zwei Augen auf meinem Nacken brennen. Starrt mich wirklich jemand an?»
Enderby rückte seinen Stuhl ein wenig zur Seite und blickte wie gelangweilt im Café umher.
«Unweit des Fensters sitzt eine Frau, groß, dunkel und schön, und die betrachtet Sie unverwandt», berichtete er.
«Jung?»
«Nein, nicht sehr jung. Hallo!»
«Was ist los?»
«Ronnie Garfield! Er ist eben hereingekommen, schüttelt ihr die Hand und setzt sich zu ihr. Ich glaube, sie sagt etwas über uns.»
Emily öffnete die Handtasche. Recht auffällig puderte sie ihre Nase, dabei dem kleinen Spiegel die passende Drehung gebend.
«Das ist Tante Jenny», erklärte sie.
«Die beiden brechen auf. Wollen Sie mit ihr sprechen?»
«Nein. Ich halte es für klüger, wenn ich so tue, als ob ich sie nicht gesehen hätte.»
«Warum soll schließlich Ihre Tante Jenny nicht Ronald Garfield kennen und ihn zum Tee einladen?», warf Charles hin.
«Warum sollte sie?»
«Warum sollte sie nicht?»
«Um Gottes willen, Charles, machen wir ein Ende mit diesem ‹sollte sie… sollte sie nicht; sollte sie… sollte sie nicht›! Es ist ja alles Unsinn, und nichts steckt dahinter. Aber kaum fünf Minuten, nachdem wir behaupteten, dass niemand von den sonstigen Teilnehmern der spiritistischen Sitzung mit der Familie in Verbindung stände, sehen wir Ronnie Garfield mit Captain Trevelyans Schwester zusammen im Café sitzen.»
«Es beweist, dass alles Wissen Stückwerk ist», sagte Charles.
«Es beweist, dass man immer wieder von vorn beginnen muss», entgegnete Emily.
«In mehr als einer Hinsicht.»
Emily blickte ihn fragend an.
«Wie meinen Sie das?»
«Nicht jetzt.» Leise legte Enderby seine Hand über die ihre, und sie zog sie nicht fort.
«Wir müssen diese Sache erst zu Ende führen, Emily. Nachher…»
«Nachher?»
«Emily, ich würde alles für Sie tun. Alles, alles.»
«Wirklich? Das ist sehr, sehr lieb von Ihnen, Charles.»
26
G enau zwanzig Minuten später läutete Emily an der Tür von Tante Jennys Heim. Was sie eigentlich beabsichtigte, wusste sie selbst noch nicht ganz genau. Doch als Betty, schlampig wie immer, öffnete, erklärte sie einfach:
«Ich weiß, dass Mrs Gardner in der Stadt ist, Betty. Aber vielleicht kann ich Mr Gardner sprechen?»
Ein solches Ansinnen war anscheinend noch nie an Betty gestellt worden, und ratlos drehte und wand sie ihren blauen Schürzenzipfel.
«Mr Gardner…?» meinte sie unschlüssig. «Da muss ich erst mal nach oben gehen und fragen.»
«Ich bitte darum.»
Sehr schnell kehrte sie jedoch mit dem Bescheid zurück, dass Mr Gardner sich wohl genug fühle, um Miss Trefusis zu sprechen.
Robert Gardner lag auf einer Couch nahe beim Fenster. Ein großer, blauäugiger, blonder Mann – Tristan, wie er im dritten Akt von Tristan und Isolde aussehen sollte und wie noch nie ein Wagnertenor ausgesehen hat, dachte die Menschenkennerin Emily Trefusis.
«Also Sie sind des Verbrechers künftige Gemahlin?», begrüßte er sie.
«Richtig, Onkel Robert. Ich darf doch Onkel Robert sagen, nicht wahr?»
«Wenn Jenny nichts dagegen hat! Na, wie ist denn das, wenn der Liebste im Gefängnis schmachtet?»
Ein grausamer Mensch – erweiterte Emily ihr Urteil –, der einem mit boshafter Freude schmerzende Hiebe versetzt. Aber sie war ihm gewachsen, und lächelnd erwiderte sie.
«Sehr aufregend.»
«Für Master James wohl nicht ganz so aufregend, he?»
«Oh, er wird um eine Erfahrung reicher, nicht wahr?»
«Lehren Sie ihn, dass das Leben nicht immer nur ein Zuckerschlecken ist», lachte er spöttisch. «War wohl zu jung, um den Krieg mitzumachen? Hat derweil auf weichen Daunenpolstern geruht. Ja, ja… Jetzt geht es ihm auf andere Weise an den Kragen.» Neugierig und gleichzeitig misstrauisch sah er das hübsche, elegante Mädchen an. «Warum wollten Sie mich eigentlich sprechen?»
«Wenn man in eine Familie einheiratet, möchte man doch vorher die einzelnen Mitglieder kennen lernen.»
«Um das Schlimmste zu erfahren, bevor es zu spät ist, was? Also denken Sie tatsächlich daran, James zu heiraten?»
«Warum nicht?»
«Trotz dieser Mordanklage?»
«Trotz der Mordanklage.»
«Verzagt und niedergeschlagen kann man Sie wahrhaftig nicht nennen», sagte Robert Gardner. «Jeder würde glauben, dass Sie sich vortrefflich unterhielten.»
«Das tue ich auch. Einen Mörder zu verfolgen, ist furchtbar packend.»
«Wie?»
«Ich sagte, einen Mörder zu verfolgen, sei
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