Das Geheimnis von Turtle Bay
Daria?“
War sie tot? Briana öffnete die Augen einen winzigen Spalt, damit das grelle Licht sich nicht bis in ihr Gehirn brennen konnte. Sie fühlte sich schlapp und hilflos, der Gnade der wogenden See ausgesetzt. Auf, ab, seitwärts … doch der Himmel war so weiß, viel zu weiß eigentlich, und durch die einzelne große Wolke über ihr schienen gleich mehrere Sonnen. Deckenlampen! Sie stachen ihr in den Augen, und als sie Leute im Raum reden hörte, kam es ihr so vor, als würden die sie anbrüllen.
Fremde Gesichter gelangten in ihr Blickfeld und verschwanden wieder. Die Haie waren nicht mehr bei ihr. Hatte sie die wirklich gesehen? Wo war Daria, ihr Spiegelbild? Es gefiel ihr nicht, allein zu tauchen. Sie wollte Daria bei sich haben, ihr anderes Selbst, wenn sie gemeinsam das Spiegelglas durchschritten und in die Welt der Tiefe eintauchten.
Jemand zog ihre Augenlider auf und richtete einen grellen Lichtstrahl auf ihre Pupille, der sich wie ein Messer in ihr Gehirn bohrte. Sie drehte den Kopf zur Seite und wollte die Hände vor ihr Gesicht legen, doch an den einen Arm waren verschiedene Schläuche angeschlossen, der andere war verbunden und tat höllisch weh. Ein Mann – ein Arzt – beugte sich über sie. Oh, Amelia stand neben ihm. Aber was tat sie hier? Und wer war der große, gut aussehende Mann mit den dunklen Augen und dem schwarzen Haar, der sie so sorgenvoll betrachtete? Seiner Kleidung nach zu urteilen, war er kein Arzt. War er mit ihr im Wasser unterwegs gewesen?
„Was ist passiert?“ , versuchte sie zu fragen, aber es klang nicht nach ihrer Stimme, und niemand gab eine Antwort. Was war mit diesen Leuten los? Und wo war Daria?
„Verbrennungen hat sie nur am linken Handgelenk erlitten“ , erklärte der Arzt an Amelia und den Fremden gerichtet. „Genau genommen ist es wohl nur eine Hautreizung – eine Reaktion, die in ein paar Tagen bereits wieder verschwunden sein könnte. Ich habe eine CT und eine MRT angeordnet, und wir verlegen sie so schnell wie möglich auf ein Zimmer, wo wir sie besser überwachen können. Wir werden auch einige andere Funktionen untersuchen, aber dafür lassen wir einen Spezialisten kommen.“
„Funktionen – im Sinne von Gehirnfunktionen?“ , wollte der Mann wissen, dessen tiefe Stimme im Gegensatz zu den anderen wie ein sanftes Flüstern klang.
„Ja, genau. Die Folgen eines Blitzschlags können sehr unterschiedlich sein. Aber auch wenn ihre Pupillen geweitet sind, möchte ich betonen, dass das Gehirn deshalb nicht zwangsläufig geschädigt wurde, Mrs Westcott.“ Er beugte sich vor, bis er ganz dicht über ihrem Gesicht war. „Briana, ich bin Dr. Hawkins. Können Sie mich hören?“
Hören konnte sie ihn sehr gut. Sie hörte jedes Geräusch in diesem Raum, sogar das Tropfen der Infusion. „Ja“ , brachte sie mit viel Mühe heraus, da sie nicht glaubte, dass sie zu einem Nicken in der Lage gewesen wäre. Ihre Lippen fühlten sich steif und spröde an. „Wo ist Daria?“
Wieder sprach der große Mann. „Briana, kannst du uns sagen, wo du Daria zuletzt gesehen hast?“
Sie kämpfte, um die Worte zu formen, aber die anderen sollten wissen, dass sie bei der Suche nach Daria helfen mussten.
„Als ich tauchte – von unserem Boot – beim Frachterwrack – vor dem Unwetter.“
Amelia schnappte erschrocken nach Luft, ein Geräusch, das sich durch Brees Trommelfelle zu schneiden schien. „Soll das heißen, sie ist noch irgendwo da draußen?“ , fragte ihre Schwester aufgebracht, doch der Mann legte eine Hand auf Amelias Arm, damit sie sich beruhigte.
„War sie noch auf dem Boot, als du sie zuletzt gesehen hast?“ , wollte der Mann wissen.
„Ja! Ja!“
„Dann wird ihr nichts passiert sein“ , meinte Amelia. „Bestimmt ist sie weiter rausgefahren, um dem Unwetter auszuweichen, oder sie hat einen anderen Hafen angelaufen.“ Sie drückte Brees Schulter und entfernte sich dann zusammen mit dem Arzt von ihr.
Nein, wollte Bree schreien. Wusste denn hier niemand, dass Daria sie niemals allein zurückgelassen hätte – jedenfalls nicht aus eigenem Antrieb?
„Wir werden nach ihr suchen und sie finden“ , erklärte der große Mann und legte seine Hand dort auf ihre Schulter, wo sich eben noch Amelias Hand befunden hatte. Seine Hand strahlte Wärme und Kraft aus. Wo war er ihr nur schon mal begegnet? „Versuch du, dich erst mal etwas zu erholen.“
Falls Amelia und der Arzt glaubten, sie würden sich im Flüsterton unterhalten, als sie sich vom Bett
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