Das Geheimnis von Vennhues
Gabriele, die Tochter von Aenne Brook. Sie war nicht Mitte vierzig, wie er geglaubt hatte, sondern genauso alt wie er. Als Kinder waren sie gemeinsam mit dem Schulbus gefahren.
»Gabriele! Ich habe dich gar nicht wiedererkannt. Da muss ich mich entschuldigen.«
»Schon in Ordnung.« Sie ließ ihn ins Haus und schloss die Tür. »Ich hätte mich wahrscheinlich auch nicht wiedererkannt, so alt und fett, wie ich geworden bin. Es ist die viele Arbeit. Die Kinder, das Haus und jetzt auch noch Mutter, die an den Rollstuhl gefesselt ist. Ich sehe bestimmt aus, als wäre ich hundertzehn.«
»So ein Quatsch. Du siehst gut aus«, log Hambrock.
Doch sie hatte kein Interesse an geheuchelten Komplimenten.
»Wie auch immer«, sagte sie und führte ihn über eine schmale Treppe hinauf in den Dachstuhl. »Sie ist oben. Dort sind ihre Räume. Sie wird sich freuen, Besuch zu bekommen. Es kommt selten jemand vorbei.«
»Sie wohnt oben?«, fragte Hambrock überrascht. Mit dem Rollstuhl musste das sehr kompliziert sein.
Gabriele lächelte resigniert.
»Sie will nicht nach unten ziehen«, sagte sie. »Sie denkt, sie kann sich nicht mehr umgewöhnen. Also muss ich sie die Treppe hinauf- und hinuntertragen.«
Hambrock runzelte verwundert die Stirn, sagte jedoch nichts.
Oben angekommen, ging es durch einen engen Flur zu einer weiß lackierten Holztür. Gabriele klopfte sacht dagegen und öffnete sie.
»Mutter? Du hast Besuch. Bernhard Hambrock junior ist gekommen.«
Der brüchige Singsang einer alten Frau drang aus dem Innern.
»Hambrocks Junge? Das ist ja eine Überraschung. Nun bitte ihn schon herein!«
Hambrock betrat einen stickigen Wohnraum, der vollgestellt war mit alten und wuchtigen Möbeln. Über den Sofalehnen lagen gehäkelte Deckchen, und sorgfältig platzierte Kissen ruhten auf den Polstern. Aenne Brook saß in ihrem Rollstuhl am Wohnzimmertisch und strickte an einem Pullover. Trotz ihres hohen Alters hatte sich der kraftvolle und strenge Ausdruck in ihrem Gesicht erhalten. Hambrock sah sie wie damals vor sich, die resolute Frau hinter der Ladentheke, vor der alle Kinder ein wenig Angst hatten.
»Setz dich doch, mein Junge, setz dich!« Sie deutete auf das Sofa und legte ihr Strickzeug beiseite. »Willst du deiner alten Nachbarin einen Besuch abstatten, oder kommst du zu mir, weil du mich als Polizist sprechen willst?«
Hambrock setzte sich und legte seinen Mantel sorgfältig über die Lehne. »Beides«, sagte er mit einem Lächeln. »Doch hauptsächlich komme ich als Polizist.«
Sie wandte sich ihrer Tochter zu. »Gabriele! Was stehst du hier noch rum? Geh und mach uns Kaffee. Und bring Bernhard einen Teller mit den Keksen, die du gebacken hast. Wir wollen unserem Gast doch etwas anbieten.«
»Das ist doch nicht nötig«, sagte Hambrock, irritiert über den ruppigen Ton der alten Frau.
Die Tochter stand in der Tür und ließ die Schultern hängen. Einen Moment schien es, als wolle sie gegen den Befehlston ihrer Mutter protestieren, doch dann dröhnte die Stimme der alten Frau wieder durch den Raum.
»Worauf wartest du noch!«
Sie blickte ihre Tochter durchdringend an. Gabriele nickte, senkte schuldbewusst den Blick und schloss die Tür. Hambrock fühlte sich peinlich berührt von dieser Szene, doch Aenne Brook fuhr unbeirrt mit dem Gespräch fort. Ganz so, als wäre nichts geschehen.
»Es ist gut, dass du nach Hause gekommen bist, mein Junge«, sagte sie freundlich. »Wir sind ja froh, dass einer von uns bei der Polizei ist. Das macht es leichter. Du kannst dich um die Sache kümmern.«
Sie legte die Hände übereinander und lächelte ihn an.
»Du bist gekommen, um Peter festzunehmen, nicht wahr? Damit endlich ein Schlussstrich unter die Geschichte gezogen werden kann.«
»Ganz so einfach ist es leider nicht«, sagte Hambrock. »Die Beweislage ist immer noch die gleiche wie vor zwanzig Jahren. Wenn keine neuen Fakten auftauchen, bleibt es wohl dabei. Man kann Peter nichts nachweisen.«
Die Tür ging auf, und Gabriele brachte Kaffee und Kekse. Hambrock bedankte sich mit ausgesuchter Höflichkeit, doch sie nickte nur knapp und verschwand ohne ein weiteres Wort wieder im Flur.
Aenne Brook legte die Stirn in tiefe Falten. »Dann sollte man Peter verbieten, hierherzukommen. Wenn er schon nicht bestraft wird für seine Taten, dann soll er sich zumindest von Vennhues fernhalten.«
»Er ist ein freier Mann. Kein Gesetz kann ihm verbieten, nach Vennhues zu kommen.«
Sie schlug wütend mit der Hand auf die
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