Das Geheimnis von Vennhues
Übelkeit stieg in ihm auf, er stürzte durch die Diele zur Toilette. Im letzten Moment schaffte er es zum Klo, dann erbrach er sich.
Es dauerte, bis er wieder zur Ruhe kam. Er sackte gegen die Wand und legte die Stirn an die kalten Fliesen. Nachdem er zweimal durchgeatmet hatte, raffte er sich auf, betätigte die Spülung und trat ans Waschbecken. Er drehte am Kaltwasserhahn und hielt seinen Kopf unter den eisigen Strahl. Augenblicklich fühlte er sich besser. Die Kopfschmerzen waren wie weggespült.
Er trocknete sich Haare und Gesicht und verließ das Bad. Er wollte die Episode, die sich da angekündigt hatte, lieber schnell vergessen. Es war nun schon die zweite Ankündigung innerhalb weniger Tage. Kein gutes Zeichen.
Von seinem Vater fehlte noch immer jede Spur. Er schien nichts von alledem mitbekommen zu haben. Peter wollte nach oben gehen, um dort nach ihm zu sehen. Dabei fiel sein Blick erneut durch die offene Küchentür.
Er blieb abrupt stehen.
Das Messer war weg.
Die blankgeputzte Anrichte leuchtete im schwächer werdenden Licht. An der Stelle, an der das Messer gelegen hatte, war nun nichts mehr. Eine geradezu unnatürlich wirkende Leere.
Er trat einen Schritt zurück. Da spürte er den festen Gegenstand an seiner Hüfte. Erschrocken tastete er mit der Hand dorthin – und erstarrte.
Das Messer steckte unter seinem Gürtel. Es war sorgfältig an der Hose befestigt worden. Er wagte nicht, sich zu bewegen. Vorsichtig zog er seinen Pullover über die Klinge, damit niemand sie sehen konnte. Er musste überlegen. Wieder sah er zu der leuchtend weißen Arbeitsfläche, als könnte er mit einem einzigen Blick den Gegenstand dorthin zurückbefördern.
»Peter? Alles in Ordnung?«
Er wirbelte herum. Sein Vater war hinter ihm aufgetaucht. Er stand in der Tür der Waschküche und blickte seinen Sohn unverwandt an.
Peters Stimme war heiser.
»Natürlich. Bei mir ist alles in Ordnung.« Er musste sich räuspern.
Sein Vater legte die Stirn in Falten. »Was tust du hier?«
Peter stand noch immer wie angewurzelt vor der offenen Küchentür. Seine Antwort kam ein wenig zu schnell.
»Ich suche dich. Ich dachte, du wärest im Wohnzimmer.«
Werner Bodenstein deutete irritiert auf die Tür in seinem Rücken.
»Ich war in der Tenne«, sagte er.
Peter hatte nun seine Fassung zurückerlangt.
»Ich wollte auch nur Bescheid sagen, dass ich spazieren gehe«, sagte er. »Damit du weißt, wo ich bin. Ich will nur ein bisschen in den Wald, bevor es dunkel wird.«
»Soll ich dich begleiten?«
»Nein!« Peter versuchte zu lächeln. »Ich wäre lieber allein. Ich muss über vieles nachdenken.«
»Also gut. Bist du zum Essen wieder hier?«
»Natürlich«, sagte Peter.
Werner Bodenstein sah ihn nachdenklich an, dann ging er an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Mit einem leisen Geräusch fiel die Tür ins Schloss.
Peter wandte sich zur Küchenanrichte.
Er wollte das Messer zurücklegen.
Doch dann zögerte er.
Erinnere dich an den Tag, an dem Willem ermordet wurde. Er wusste, es war nicht ungefährlich, ins Moor zu gehen. Vielleicht wäre Willem damals nichts geschehen, wenn er sich besser vorbereitet hätte. Wenn er nicht von seiner Seite gewichen wäre. Oder wenn er sich bewaffnet hätte.
Bestimmt ist es besser, wenn ich das Messer mitnehme, dachte er. Man weiß nie, was passieren kann. Du hast Recht, das weiß man nie.
Er zog die Hand wieder vom Gürtel. Das Messer blieb, wo es war. Dann nahm er seinen Mantel und verließ das Haus.
Die Dämmerung schritt voran. Nicht mehr lange, dann würden die Laternen im Dorf aufflackern und den Tag zur Neige gehen lassen. Hambrock blickte nachdenklich in den dichter werdenden Nebel, der sich von den Feldern her über Vennhues ausbreitete.
Am Ortseingang hoben sich zwei Gestalten schemenhaft vom Dunst ab. Es waren Aenne Brook und ihre Tochter. Gabriele schob den Rollstuhl der alten Frau die Straße hinunter, kurz darauf verschwanden sie im Nebel. Aenne Brook war auf dem Weg zur Kirche. Ihrer täglichen Andacht war sie bereits pflichtgetreu nachgegangen, als Hambrock noch ein Kind gewesen war. Gewisse Dinge änderten sich eben nie.
Dann tauchte erneut eine Gestalt auf. Es war Josef Kemper, der mit seinem Fahrrad über die Schnellstraße fuhr. Er war auf dem Weg zu Hermann Esking, wo an diesem Abend das Treffen der Schützenbruderschaft stattfand. Kemper war Kassenwart, und deshalb würde er einer der Ersten sein, die dort eintrafen. Es dauerte nicht lange, da war auch Josef
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