Das Geheimnis von Vennhues
Trampelpfad, der hinter dem Absperrband in den Nebel führte. »Wollen Sie die Leiche sehen?«, fragte er.
»Später.« Sie ließ den Blick über den verwaisten Parkplatz und die angrenzenden Gebäude schweifen. »Eine Polizeiwache gibt es hier wohl nicht. Können wir uns dennoch irgendwo ungestört unterhalten?«
»Bei Esking. Das ist die Dorfkneipe dort drüben. Heute Abend fand dort das Treffen der Schützenbruderschaft statt. Ich kenne den Wirt, und ich glaube nicht, dass er etwas dagegen hat, wenn wir seinen Gastraum heute Nacht als eine Art Lagezentrum benutzen.«
Seine Kollegin Heike tauchte in Begleitung eines Streifenbeamten auf. Hambrock sagte ihr, wo er zu finden sein würde, dann führte er die Staatsanwältin zu dem alten Fachwerkbau.
Im Schankraum schwebten noch immer Bierdunst und Zigarrenrauch über den Tischen. Doch es war niemand mehr dort. Keiner der Männer hätte sich wohl träumen lassen, auf welche Art ihr Treffen zu Ende gehen würde. Hambrock drückte die Schwingtür zur Küche auf und rief in die Nebenräume hinein. Kurz darauf erschien Hermann Esking. Er bot sofort an, Kaffee zu kochen und Schnittchen zu schmieren. Mit einem Lappen wischte er über einen alten Holztisch in der Ecke des Raums, dann forderte er sie auf, Platz zu nehmen, und verschwand wieder in der Küche. Marina Hobe setzte sich und stellte ihre Handtasche auf dem Tisch ab.
»Was sagt die Rechtsmedizin?«, fragte sie.
Kein höfliches Wort, keine private Bemerkung. Sie war wie eine Maschine, dachte Hambrock. Perfektes Aussehen, perfekte Urteilskraft. Zu jedem Zeitpunkt und an jedem denkbaren Ort. Selbst mitten in der Nacht hier draußen in Vennhues.
»Bislang war nur der Notarzt da«, sagte er. »Dennoch können wir wohl von Tod durch Fremdeinwirken ausgehen. Die Stichkanäle im Körper des Toten sind noch nicht gezählt, doch es sind sehr viele. Selbstbeibringung ist nach Aussage des Arztes unmöglich.«
»Gibt es ein Tatwerkzeug?«
»Noch nicht gefunden.«
»Wer ist das Opfer?«
»Timo Große Dahlhaus«, sagte Hambrock. »Ein siebzehnjähriger Junge aus dem Ort. Er war mit dem Tatverdächtigen zur mutmaßlichen Tatzeit im Moor verabredet. Wir haben einen Brief gefunden, der dieses Treffen benennt.«
Sie nickte. »Auffindungszeuge?«
»Franz Heitmann«, sagte er. »Er wohnt in einem Haus nahe am Moor und war mit seinem Hund spazieren. Das Tier ist auf den Toten aufmerksam geworden.«
»Motiv?«
Hambrock lehnte sich zurück und atmete durch.
»Das ist eine längere Geschichte. Vielleicht nehmen wir da erst einmal einen Schluck Kaffee.«
Er deutete zur Schwingtür hinter dem Tresen. Hermann Esking war mit zwei dampfenden Bechern Kaffee erschienen. Er stellte sie auf ihren Tisch und reichte Milch und Zucker.
»Ich habe noch weitere Kannen aufgesetzt, Bernhard«, sagte er. »Du kannst deinen Kollegen draußen Bescheid geben, dass sie sich bedienen sollen. Kaffee gibt es heute Nacht genug.«
»Das ist sehr nett von dir, Hermann. Sie werden sich freuen, das zu hören. Was hast du jetzt vor?«
»Ich werde nach oben gehen und sehen, wie es Margret geht. Sie ist sehr aufgewühlt wegen dieser Sache.«
»Halte dich bitte bereit«, sagte Hambrock freundlich. »Ich muss dir nachher noch ein paar Fragen stellen.«
»Natürlich.«
Er wartete, bis der Wirt wieder hinter der Schwingtür verschwunden war, dann zog er die Tasse heran und probierte einen Schluck. Der Kaffee war noch sehr heiß, aber er schmeckte hervorragend.
»Dies ist nicht der erste Mord in Vennhues«, sagte er zu Marina Hobe. »Es ist schon einmal ein Junge aus dem Dorf im Moor getötet worden. Das war vor dreiundzwanzig Jahren, an derselben Stelle. Auch der Tathergang war ähnlich, zumindest soweit wir das heute Nacht bestimmen können. Beide Opfer wiesen eine Vielzahl von Einstichwunden auf. Besonderes Detail: Beiden wurde der Analbereich zerschnitten. Der Junge von damals hieß Willem van der Kraacht. Peter Bodenstein war Hauptverdächtiger in dem Mordprozess. Er wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Vor der Tat hatte es zwischen ihm und van der Kraacht einen Streit gegeben. Zudem hatte Bodenstein kein Alibi, und das Tatwerkzeug war ein Küchenmesser aus dem Haus seiner Eltern. Bodenstein hat die Tat jedoch niemals gestanden, und nach dem Prozess ist er von hier fortgegangen. Er war über zwanzig Jahre nicht in Vennhues. Und nun …«, Hambrock stockte und machte eine bekümmerte Geste in Richtung Moor, »… nun ist er
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