Das Geheimnis von Winterset
wusste, dass die junge Frau Estelle hieß und eines der Zimmermädchen war, die sich um die oberen Räume kümmerten.
Zunächst verstand sie nicht, warum Estelle sich heimlich hereinschlich, doch dann ging Anna auf, dass sie wahrscheinlich gerade erst ins Haus zurückkehrte - was bedeutete, dass sie die Nacht nicht oben in ihrem Bett verbracht hatte.
Anna wollte sie gerade ansprechen, als aus dem Seitengang laut die Stimme der Haushälterin ertönte. „Estelle!"
Sowohl Anna als auch das Zimmermädchen zuckten zusammen. Die junge Frau warf Anna einen bittenden Blick zu und eilte zur Hintertreppe.
„Verflixt! Wo steckt dieses Mädchen nur?", schimpfte die Haushälterin und kam schweren Schrittes auf Anna zu, die genau dort stand, wo der Seitengang auf den Hauptkorridor traf. Doch noch war Mrs. Michaels zu weit entfernt, um auch das Dienstmädchen zu sehen, das unschlüssig am Fuß der Treppe verharrte. „Oh, Miss Anna, ich wusste ja gar nicht, dass Sie hier sind. Ich suche eigentlich nur Estelle, dieses dumme Ding."
Anna lächelte und log ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich glaube, ich habe sie vorhin oben beim Aufräumen der Schlafzimmer gesehen."
Seit Anna denken konnte, war Mrs. Michaels die Haushälterin der Holcombs gewesen. Sie war eine sehr tüchtige und zuverlässige Bedienstete, aber auch von recht strengem und unnachsichtigem Wesen. Anna zumindest hätte nicht gerne unter ihrer Fuchtel gestanden.
Estelle warf Anna einen dankbaren Blick zu und eilte dann die Treppe hinauf. Anna unterhielt sich derweil weiter mit der Haushälterin. „Ich wollte nach den Pasteten sehen, die ich mit zum Pfarrhaus und zu Mrs. Simmons nehmen möchte."
„Aber ja, Miss", versicherte ihr Mrs. Michaels. „Darum habe ich mich gekümmert. Die haben wir gleich als Erstes heute Morgen gebacken, und die Köchin hat sie gerade aus dem Ofen genommen, damit sie noch ein wenig abkühlen können."
„Danke. Wenn Sie so gut wären, eine Nachricht in die Stallungen zu schicken, damit mein Pferdewagen um zehn Uhr vorgefahren wird."
„Natürlich, Miss."
Anna ging über den Korridor zurück, die Treppe hinauf und zu dem kleineren der beiden Speisezimmer, in dem sie und Kit meist aßen. Ihr Bruder, der schon immer ein Frühaufsteher gewesen war, saß bereits am Tisch und trank eine Tasse Kaffee, wie es ihm seit seiner Grand Tour auf den Kontinent vor einigen Jahren zur Gewohnheit geworden war.
„Hallo, Anna", begrüßte Kit sie, stand auf und rückte ihr den Stuhl zu seiner Linken zurecht. „Ich hoffe, dass es dir heute Morgen gut geht."
„Sehr gut. Und dir?" Sie goss sich eine Tasse Tee ein.
Bei ihnen zu Hause herrschten nicht die üblichen Förmlichkeiten. Ihre Mutter war gestorben, als Anna erst vierzehn Jahre alt gewesen war, und von da an hatte sie ihrem Vater und ihrem Bruder den Haushalt geführt. Es wäre ihr lächerlich erschienen, wenn sie auf Holcomb Manor, ihrem gemütlichen Herrenhaus, das sie jetzt nur mehr zu dritt bewohnten, den aufwendigen Stil ihrer Mutter beibehalten hätte, die eine geborene de Winter gewesen und daher einen prunkvolleren Lebenswandel gewohnt war. Um diesen Wechsel in den Gepflogenheiten herbeizuführen, hatte es einiger heftiger Auseinandersetzungen mit der Haushälterin bedurft, der Traditionen heilig waren. Dabei hatte Anna sogar gelegentlich ihren Vater um Unterstützung bitten müssen, aber letztlich hatte sie sich durchsetzen können, denn trotz ihres liebenswerten Wesens konnte sie durchaus sehr starrköpfig sein. Und so kam es nun, dass die Hausdiener keine Livreen trugen, die Mahlzeiten von nicht mehr als zwei Bediensteten serviert und die Speisen für das Frühstück nicht in unglaublichen Mengen zubereitet wurden.
Während sie aßen, unterhielten Kit und Anna sich mit der Unbeschwertheit zweier Menschen, die fast ihr gesamtes Leben miteinander verbracht hatten. Da sie sonst keine Geschwister besaßen und nur zwei Jahre sie trennten, waren sie einander von Kindesbeinen an beste Freunde und Vertraute gewesen. Als Kit in die Internatsschule kam, hatten sie sich natürlich seltener gesehen, und auch, als er seine Reise auf den Kontinent angetreten hatte, wie sie für junge Männer seines Standes üblich war. Doch als ihr Vater vor zwei Jahren gestorben und Kit zurückgekehrt war, um das Erbe von Sir Edmund anzutreten, war es ihm und Anna nicht schwergefallen, zu ihren alten Gewohnheiten zurückzufinden.
Sie waren sich vom Wesen her sehr ähnlich, waren beide von ruhiger,
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