Das Geheimnis von Winterset
abgeliefert."
„Sehr schön", erwiderte Anna. „Und ist sonst alles in Ordnung?"
Der Mann zuckte ratlos die Schultern. „Wie immer, Miss."
Anna nickte kurz. „Brauchen sie dort oben noch etwas?"
„Nein, zumindest hat Bradbury um nichts gebeten. Ich habe ihnen auch einen Fasan gebracht, weil er den eigentlich immer mag."
„Schön. Danke, Rankin."
„Miss." Er nickte ihr zum Abschied zu, drehte sich dann um und ging davon.
Anna schlug einmal kurz mit den Zügeln, und das Pferd setzte sich erneut in Bewegung. Zügig fuhr sie die sanft geschwungene Auffahrt entlang, bis sie schließlich auf die Straße stieß, die ins Dorf führte. Sie war gerne draußen an der frischen Luft, und an einem warmen Junitag wie diesem, an dem die Sonne die Rhododendronblüten leuchten ließ, war es ihr ein reines Vergnügen, einfach nur herumzufahren und sich an der Landschaft zu erfreuen.
Hierher gehörte sie. Die Umgebung war ihr vertraut und genauso ans Herz gewachsen wie das Haus, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Manchmal, wenn sie anfing, etwas selbstmitleidig zu werden, rief sie sich immer ins Bewusstsein, was sie hier alles hatte - sie war umgeben von den Schönheiten der Natur und von freundlichen Menschen, die ein Teil ihres Lebens geworden waren.
Zuerst fuhr sie zum Haus des Pächters, wo sie eine der Pasteten ablieferte und pflichtschuldigst das laut schreiende Baby bewunderte. Dann brach sie zum Pfarrhaus auf, das unmittelbar neben der Kirche gelegen war.
Als sie dort eintraf, sah sie die Kutsche des Squires vor dem Haus stehen, was nur heißen konnte, dass Mrs. Bennett der Pfarrersfrau gleichfalls einen Besuch abstattete. Anna überlegte einen Augenblick, ob sie nicht lieber umdrehen und zurückfahren sollte. Aber nein, dachte sie, das ging natürlich nicht. Eine der Frauen könnte sie schon durch das Fenster gesehen haben, und ihr Verhalten würde zu Recht als sehr unhöflich empfunden werden. Also stieg sie aus ihrem Wagen, band das Pferd am Gartenzaun fest, nahm die verbliebene der beiden Pasteten und tröstete sich damit, dass ihr schon etwas einfallen würde, um den Besuch so kurz wie irgend möglich zu halten.
Das Hausmädchen machte einen Knicks, als sie die Pastete von Anna entgegennahm, und führte die Besucherin in die Wohnstube. Dort traf sie nicht nur Mrs. Bennett und Mrs. Burroughs, die Frau des Pfarrers, sondern auch den Landarzt. Als sie hereinkam, sprang Dr. Felton mit einem so erfreuten Lächeln auf, dass Anna nicht zum ersten Mal vermutete, er wisse Mrs. Bennetts Unterhaltung wohl ebenso wenig zu schätzen wie sie selbst.
„Miss Holcomb, was für ein glücklicher Zufall", begrüßte er sie und kam auf sie zu, um ihr die Hand zu geben.
Martin Feiton war Ende dreißig, nicht verheiratet und gehörte dem kleinen gesellschaftlichen Kreis an, in dem Anna und ihr Bruder sich bewegten. Sie sah ihn oft auf Festen und Versammlungen, und wenngleich sie ihn nicht unbedingt als einen Freund bezeichnen würde, so war er doch ein guter Bekannter.
„Oh ja, Miss Holcomb, es ist ganz reizend, Sie zu sehen." Mrs. Burroughs, eine zierliche, immer ein wenig aufgeregt wirkende Frau, eilte auf Anna zu. „Wie nett von Ihnen, uns zu besuchen. Und dann auch noch eine der köstlichen Pasteten mitzubringen, die Ihrer Köchin immer wunderbar gelingen! Das ist wirklich sehr aufmerksam von Ihnen." Sie bewunderte die Pastete, die das Hausmädchen in den Händen hielt, und wandte sich dann erneut Anna zu, nahm sie beim Arm und führte sie zum Sofa, wo sie sich neben sie setzte.
Mrs. Bennett, die im Gegensatz zu ihrer zierlichen Freundin recht korpulent war, stimmte nun in die überschwängliche Begrüßung ein. „Es ist so schön, Sie zu sehen, Anna! Wie geht es Ihrem Bruder, meine Liebe?
Er ist ja so ein netter junger Mann. Rachel, habe ich Ihnen nicht kürzlich erst gesagt, dass ich Sir Christopher für den Inbegriff eines Gentlemans halte?"
„Oh ja, da bin ich mir ganz sicher. Ein perfekter Gentleman", stimmte Mrs. Burroughs ihrer Freundin zu.
„Sie sollten ihn dafür schelten, dass er Sie nicht begleitet hat. Wir freuen uns immer sehr, ihn zu sehen", meinte Mrs. Bennett vorwurfsvoll zu Anna.
„Er hat heute leider sehr viel mit dem Gutsverwalter zu besprechen", erwiderte Anna.
„Aber natürlich, er ist ja so ein pflichtbewusster junger Mann. Ich wünschte, dass mein Miles dasselbe Interesse für unser Gut zeigte, aber er interessiert sich nun einmal gar nicht für geschäftliche Dinge. Ich
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