Das Geheimnis von Winterset
Öllampe brannte nur niedrig, sodass sie kaum Kits Gesicht ausmachen konnte, doch er schien wirklich friedlich zu schlafen.
Sie blieb eine Weile so sitzen und beobachtete ihren Bruder, dann stand sie auf und ging zum Fenster hinüber.
Nachdem sie den Vorhang beiseite gezogen hatte, sah sie hinauf in den nächtlichen Himmel. Die Sterne funkelten, der Mond stand allerdings mittlerweile so hoch, dass sie ihn von hier aus nicht mehr sehen konnte.
Schließlich blickte Anna in den Garten hinunter. Dicht am Haus wuchsen nur Blumen und kleinere Sträucher, zwischen denen sich schmale Pfade schlängelten, die zu den alten Baumbeständen im hinteren Teil des Gartens führten. Auf einmal nahm sie eine Bewegung wahr. Etwas huschte zwischen den Bäumen hin und her ... Sie zog den Vorhang näher zu sich heran, um das schwache Licht der Öllampe im Zimmer auszublenden, und sah angestrengt in die Dunkelheit hinaus.
Dort, unter dem Maulbeerbaum, bewegte sich ein dunkler Schatten, der langsam vor ihren Augen Gestalt annahm.
Von der Höhe ihres Fensters aus waren die Umrisse nur schwer auszumachen, und sie brauchte eine Weile, bis sie erkannte, dass es sich um einen Mann handelte, der einen Hut trug und in einen Umhang gehüllt war. Während sie ihn beobachtete, drehte er sich nach dem Haus um.
Unter der weiten Krempe des Hutes konnte sie sein Gesicht nicht erkennen, aber aus den gespenstisch langsamen Bewegungen seines Kopfes schloss sie, dass er die Fassade aufmerksam nach etwas abzusuchen schien. Als sein Blick auf das Fenster fiel, an dem sie stand, verharrte er reglos.
Anna lief es eiskalt den Rücken hinunter. Das Unheil wartete auf sie.
14. KAPITEL
Anna sog scharf den Atem ein und trat einen Schritt zurück. Einen Moment lang konnte sie keinen klaren Gedanken fassen und stand völlig reglos. Dann drehte sie sich abrupt um, rannte aus Kits Zimmer und die Treppe hinunter, wobei sie laut nach dem Butler rief. Ohne jedoch auf ihn zu warten, hastete sie weiter zur Hintertür, um zu überprüfen, dass sie auch wirklich verschlossen war. Sie betrat das Arbeitszimmer, dessen Fenster genau an der Seite des Gartens lagen, wo sie gerade die Gestalt zwischen den Bäumen gesehen hatte. Im Dunkeln tastete Anna sich durch den Raum und blickte schließlich vorsichtig durch einen Spalt in den Vorhängen hinaus in die Nacht.
Sie konnte indes kaum etwas erkennen, da ihr die Sträucher und Büsche im Garten die Sicht nahmen. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass jedes der Fenster sicher verriegelt war, kehrte sie in die Eingangshalle zurück, wo sich mittlerweile Hargrove, der Butler, mit einem der Hausdiener eingefunden hatte. Der Butler hatte sich offensichtlich bereits zur Nachtruhe zurückgezogen, und seine ansonsten würdevolle Erscheinung litt nun ein wenig unter der Schlafkappe auf seinem Kopf und dem Morgenmantel, in den er seinen fülligen Leib gehüllt hatte.
„Ist etwas nicht in Ordnung, Miss?"
„Ich ... habe draußen jemanden gesehen", teilte Anna ihm mit. Plötzlich klang das selbst in ihren eigenen Ohren dumm und ängstlich. „Zwischen den Bäumen im Garten stand eine Person und sah zum Haus hinauf."
Der Hausdiener sah sie ungläubig an, und wenngleich Hargrove sein Erstaunen ein wenig besser zu verbergen wusste, so klang er dennoch etwas skeptisch als er nachfragte: „Eine Person, Miss?"
„Ja", erwiderte Anna mit fester Stimme und sah ihn unverwandt an. „Heute Nacht ist mein Bruder überfallen worden. Obwohl ich nicht weiß, wen ich gerade im Garten gesehen habe oder was die Person dort tut, so denke ich doch, dass wir es nicht auf die leichte Schulter nehmen sollten."
„Nein, Miss, natürlich nicht." Der Butler zögerte kurz. „Soll ich ... jemanden nach draußen schicken?"
„Nein. Kontrollieren Sie bitte, dass alle Türen und Fenster verriegelt sind. Und vergessen Sie bitte keines."
„Natürlich, Miss. Wir kümmern uns sofort darum."
Hargrove wandte sich an den Hausdiener, gab ihm einige Anweisungen, und dann verschwanden die beiden Männer. Anna eilte die Treppe hinauf in das Zimmer ihres Bruders. Sie ging geradewegs zum Fenster, zog den Vorhang ein wenig beiseite und blickte in den Garten hinunter. Unter den Bäumen war niemand mehr zu sehen.
Allerdings fühlte Anna sich dadurch kaum beruhigt. Nachdenklich wandte sie sich vom Fenster ab und ging zum Bett hinüber, wo Kit noch immer tief schlief. Sie schob den Stuhl ein wenig näher an das Bett heran und setzte sich. Es war wichtig, dass ihr
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