Das Geheimnis von Winterset
gemacht, dass er seine Feinde hat beseitigen müssen - wobei ich mir nicht sicher bin, ob er darüber sprechen würde. Selbst vor seinem engsten Vertrauten, seinem Diener Arthur, bewahrt er seine Geheimnisse."
„Was meint sein Diener denn dazu?"
„Er glaubt nicht, dass Onkel Charles es gewesen sein könnte. Allerdings hat er zugegeben, dass er selbst in besagten Nächten geschlafen hat und somit nicht weiß, wo Charles gewesen ist. Zudem ist er meinem Onkel treu ergeben - ihn zu betreuen ist eine schwere, undankbare Aufgabe, und dennoch ist Arthur all die Jahre bei ihm geblieben. Wir zahlen ihm zwar weiterhin seinen Lohn als Kammerdiener, aber nur wegen des Geldes würde kaum jemand diese Arbeit übernehmen. Seit mein Onkel ein kleiner Junge war, hat Arthur sich um ihn gekümmert, und er liebt ihn wie seinen eigenen Sohn. Daher weiß ich nicht, wie sehr ich seinen Aussagen Glauben schenken kann."
„Und was ist mit dem Zwischenfall, der sich heute Nacht ereignet hat? Würde er denn Ihrem Bruder etwas antun wollen? Müsste er Sir Christopher nicht eigentlich erkennen?"
„Ganz sicher würde er Kit niemals etwas zuleide tun! Er weiß genau, wer wir beide sind, und immer wenn wir ihn besuchen, freut er sich sehr, uns zu sehen - obschon er es nicht immer zeigen kann, da seine Ängste und Wahnvorstellungen oft stärker sind. Aber noch nie hat er Kit und mich, oder auch Arthur, bedroht oder des Verrates bezichtigt. Vorgekommen ist so etwas allerdings schon ... Bevor er Winterset endgültig verlassen hat, mussten immer wieder Dienstboten fortgeschickt werden, weil Onkel Charles glaubte, sie würden ihn heimlich beobachten und hätten es auf ihn abgesehen. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, dass er nicht einen von uns dreien irgendwann angreifen würde. Oh Reed, sollte er all diese schrecklichen Dinge getan haben, dann wäre es auch meine Schuld, weil ich meinen Onkel nicht habe einsperren lassen!"
Tränen schimmerten in ihren Augen, und Reed legte den Arm um sie und zog sie an sich. Sanft berührte er mit den Lippen ihr Haar. „Weinen Sie nicht. Es ist nicht Ihre Schuld."
Anna lehnte sich an ihn und gab ihrer Schwäche für einen Moment nach. Sie wusste, dass sie nach dieser Nacht wieder stark sein musste. Nur diesen einen Augenblick wollte sie sich zugestehen ...
Seufzend trat sie schließlich einen Schritt von Reed zurück und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Entschuldigen Sie bitte, ich bin völlig durcheinander."
„Sie haben allen Grund, beunruhigt zu sein. Ich möchte Ihnen helfen, Anna."
„Ich brauche Ihre Hilfe auch", gestand sie ein. Mit großen Augen, die noch immer feucht schimmerten, sah sie ihn an. „Ich bin Ihnen sehr dankbar."
„Sie müssen mir nicht danken", erwiderte er knapp. „Ich möchte nur ... ich möchte, dass Sie glücklich sind."
Anna lächelte schwach. Sie würde ihn nicht wissen lassen, dass sein Wunsch sich nie erfüllen könnte. Einmal in ihrem Leben war sie wirklich glücklich gewesen, als sie sich in ihn verliebt hatte. Doch nun hatte sie sich geschworen, ohne ihn zu leben.
„Wir werden herausfinden, wer hinter dem allen steckt und dem Spuk ein Ende machen", fuhr Reed entschlossen fort.
Sie nickte und atmete tief durch. „Ich sollte wieder nach oben gehen und nach Kit sehen."
„Ja, natürlich. Dann werde ich mich jetzt verabschieden."
„Reed ..." Sie streckte die Hand nach ihm aus und berührte kurz seinen Arm. „Ich danke Ihnen."
„Keine Ursache." Er nahm ihre Hand und küsste sie galant. Es wäre lediglich eine höfliche Geste, wenn nur seine Haut sich nicht so wunderbar warm anfühlen und ein wohliger Schauder Annas Arm hinaufkriechen würde ...
Zitternd holte sie Luft, brachte hingegen kein Wort heraus.
Reed wandte sich um und ging. Anna musste sich erst setzen und brauchte einen Moment, um ihre Fassung wiederzugewinnen. Dann machte sie sich auf den Weg nach oben.
Thompkins hielt nach wie vor Wache am Bett ihres Bruders und sprang sofort auf, als Anna das Zimmer betrat.
„Wie geht es ihm?", erkundigte sie sich.
„Unverändert, Miss. Er atmet regelmäßig und scheint zu schlafen. Ich kann die ganze Nacht hier sitzen bleiben", bot der Kammerdiener an.
„Ich danke Ihnen, Thompkins, aber ich glaube, dass ich jetzt eine Weile bei Kit bleiben werde. Versuchen Sie, ein wenig zu schlafen, falls ich später noch einmal nach Ihnen rufe."
„Jawohl, Miss."
Thompkins verließ das Zimmer, und Anna setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Die
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