Das Geheimnis von Winterset
Sie etwas von Perkins erfahren?"
Anna zögerte kurz. „Nein, eigentlich nicht. Er erzählte mir, dass er den Bauern kannte, der damals umgebracht wurde - leider auch nicht viel mehr."
„Ich habe mich derweil durch die Unterlagen im Verwalterhaus gearbeitet", berichtete nun Reed. „Es hat einen ganzen Tag gedauert, zu guter Letzt habe ich aber die Haushaltsbücher für den entsprechenden Zeitraum gefunden."
Anna horchte auf. „Dann wissen Sie jetzt sicher auch den Namen der Dienstboten, die damals auf Winterset angestellt waren?"
„Ja, wenngleich ich mich sehr schwer damit getan habe, die Eintragungen zu entziffern. Oft sind nur die Vornamen aufgeführt! Ich habe die Informationen allerdings an Mr. Norton weitergereicht, der herausgefunden hat, dass eines der ehemaligen Hausmädchen noch lebt - in Eddlesburrow."
„Wirklich? Aber das ist ja gar nicht weit von hier! Zu Pferd braucht man vielleicht eine Stunde."
„In dem Ort befinden sich auch die Aufzeichnungen der gerichtlichen Untersuchung."
Anna schlug sich mit der Hand an die Stirn. „An die habe ich ja gar nicht gedacht!"
„Ich weiß zwar nicht, ob wir aus ihnen mehr erfahren, als wir aus den Notizbüchern des Arztes ohnehin schon wissen, dennoch sollten wir sie uns einmal ansehen."
„Das finde ich auch. Allerdings kann ich erst mitfahren, wenn es Kit wieder besser geht."
„Natürlich. Das ehemalige Hausmädchen und die Unterlagen werden uns sicher nicht davonlaufen." Reed zögerte kurz. „Anna ... ich würde Sie gerne etwas über Ihren Onkel fragen."
Ihr Blick wurde wachsam, und unwillkürlich legte sie sich die Hand auf den Bauch, um ihre flatternden Nerven zu beruhigen. „Und was?"
„Während der letzten Tage habe ich über die Dinge nachgedacht, die Sie mir erzählt haben. Und dabei ist mir aufgefallen ... Machen Sie sich Sorgen darüber, dass Ihr Onkel die Morde begangen haben könnte?"
Anna schlug das Herz bis zum Hals. Bestürzt sah sie ihn an, ohne auch nur ein Wort herausbringen zu können.
„Nein, bitte schauen Sie mich nicht so an", beeilte er sich rasch zu sagen und kam auf sie zu. „Ich will damit nicht andeuten, dass er es gewesen sein könnte. Allerdings glaube ich, dass Sie diese Befürchtung haben."
„Die habe ich", flüsterte sie kaum hörbar. „Oh Reed ... "
Sie presste ihre Lippen fest zusammen, um ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Seit mehr als zwei Wochen hatte sie diese Angst mit sich herumgetragen, und obwohl es nun schmerzte, zuzugeben, was sie über Ihren Onkel dachte, so war es doch eine Erleichterung. Als sie erst einmal anfing, darüber zu reden, sprudelten die Worte nur so aus ihr hervor.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass er jemandem Schaden zufügen würde, im Grunde ist er nämlich kein gewalttätiger Mensch. Er ist sogar ein äußerst gutmütiger Mann. Nur wegen der Kratzspuren auf den Opfern frage ich mich doch ... Ich hatte Ihnen ja erzählt, dass Onkel Charles sich weigert, seine Nägel zu schneiden. Als Dr. Felton darauf hinwies, dass die Wundmale sehr weit auseinander lagen und lediglich die Tatzen eines Bären solche verursachen könnten, musste ich sofort daran denken, dass die Finger einer menschlichen Hand ähnliche Spuren hinterlassen würden."
„Anna!" Reed nahm ihre Hand. „Bitte machen Sie sich nicht solche Gedanken. Die Art der Verletzungen muss noch kein Beweis für die Schuld Ihres Onkels sein."
„Ich weiß." Anna atmete tief durch. „Dennoch ... alle sagen, dass nur ein Verrückter solche Taten begehen kann.
Alles scheint so unmotiviert und grundlos zu sein! Onkel Charles hat hingegen gute Gründe für alles, was er tut - allerdings sind sie zumeist so absonderlich, dass kein normaler Mensch sie nach vollziehen kann. An sich ist er ein freundlicher, gutmütiger Mann ... eigentlich bedauernswert, weil er in ständiger Angst lebt vor Gefahren, die nur in seiner Vorstellung existieren. Aber nachts streift er durch den Wald, und sein Diener kann ihm nicht die ganze Zeit folgen, weil er selber seinen Schlaf braucht. Was ist nun, wenn mein Onkel aus unerfindlichen Gründen glaubt, dabei den Schergen der Königin begegnet zu sein? Uns scheint das lächerlich, aber für ihn ist es die Wirklichkeit, und ich fürchte, dass er unter dem Einfluss einer seiner Wahnvorstellungen auch in der Lage wäre zu töten."
„Haben Sie ihn seitdem gesehen oder mit ihm gesprochen?"
„Ja, ich habe ihn gesehen. Er wirkt nicht anders als sonst und hat keine Andeutungen darüber
Weitere Kostenlose Bücher