Das Geheimnis von Winterset
sie ein Gesicht erkennen ... schauderhafter und furchteinflößender als alles, was sie jemals gesehen hatte. Und dann, bevor sie noch einen weiteren Gedanken fassen konnte, sank etwas tief in ihren Hals, riss und zerrte an ihr. Ihre Schreie hallten in der Stille des Waldes wider, bis sie langsam erstarben.
3. KAPITEL
Mittlerweile hatte Anna alles über die Ankunft Lord More-lands auf Winterset erfahren. Gleich am nächsten Morgen hatte ihre Kammerzofe ihr aufgeregt davon berichtet, und später erzählten es ihr auch die Frau des Squires und deren Tochter in aller Ausführlichkeit. Anna hütete sich sorgsam, ihnen gegenüber zu erwähnen, dass sie Reed bereits begegnet war. Stattdessen hörte sie freundlich lächelnd und geduldig zu, wie Mrs. Bennett ausschweifend die Erzählung des Apothekers wiedergab, der gesehen hatte, wie die ganze Reisegesellschaft durch Lower Fenley gefahren war.
Nachdem die Bennetts gegangen waren, wandte Kit sich nachdenklich an seine Schwester: „Ich sollte ihm wahrscheinlich einen Höflichkeitsbesuch abstatten. Oder meinst du, das wäre zu aufdringlich?"
Trotz ihrer inneren Aufgewühltheit musste Anna lächeln, als sie den gespannten Ausdruck auf seinem Gesicht sah.
Er hatte das Thema bereits vor ein paar Tagen zur Sprache gebracht, nachdem sie zum ersten Mal davon gehört hatten, dass Reed Moreland nach Winterset zurückkehren würde. Allem Anschein nach hatte Kit die Frage seitdem keine Ruhe mehr gelassen. Mit seinen vierundzwanzig Jahren war er eben noch recht jung, und die Aussicht auf neue Nachbarn war eine willkommene Ablenkung. Es gab in der näheren Umgebung nur wenige Leute seines Alters oder seines gesellschaftlichen Ranges, und seinen Aufenthalt in London hatte er nach dem Tode seines Vaters abgebrochen, um dessen Pflichten auf Holcomb Manor zu übernehmen. Kit hatte sich ohne zu klagen in sein Schicksal gefügt, und meist schien er mit dem ruhigen Leben auf dem Lande auch zufrieden.
Dennoch war es wenig verwunderlich, dass er sich nun nicht die Gelegenheit entgehen lassen wollte, neue Bekanntschaften zu machen - war der gesellschaftliche Höhepunkt seines beschaulichen Lebens doch das Kartenspiel, zu dem er sich mit Dr. Felton und einigen anderen Männern aus der Umgebung einmal die Woche im Dorf traf. Und wären nur die Umstände andere gewesen, würde auch Anna sich sehr darauf gefreut haben, die neuen Bewohner von Winterset kennenzulernen. Nun war es ihr jedoch fast am liebsten, wenn ihr Bruder Reed gar nicht begegnete, aber sie konnte sich nicht dazu überwinden, Kit von der unglücklichen Beziehung zu erzählen, die sie mit Lord Moreland verband.
„Nein, ich finde nicht, dass es aufdringlich wäre", versicherte sie Kit daher und schaffte es sogar, ihr freundliches Lächeln zu wahren. „Es entspricht durchaus den Konventionen." Sie wollte hoffen, dass Reed ihn nicht brüskierte, nur weil er ihr Bruder war. „Bei der Gelegenheit kannst du auch gleich in Erfahrung bringen, wie lange sie bleiben wollen und ob sie nett sind oder Snobs, die mit uns vom Lande ohnehin nichts zu tun haben wollen."
„Wie ist Moreland denn so?", fragte Kit. „Du hast ihn doch gekannt! Mrs. Bennett meinte sogar ..."
Schnell unterbrach Anna ihn mit einem kurzen Lachen. „Komm schon, Kit! Du wirst wohl kaum Mrs. Bennett Glauben schenken wollen. Wenn man sie so reden hört, könnte man schließlich fast meinen, du hättest dein Herz an ihre Tochter verloren."
Kit verzog leicht das Gesicht. „Schon gut. Aber zumindest hattest du dich mit diesem Mann häufiger unterhalten."
„Ja, auf Abendgesellschaften. Lord Moreland wirkte sehr ... nett. Er lief nicht die ganze Zeit mit stolzgeschwellter Brust herum, wie ich es von dem Sohn eines Dukes erwartet hätte. Aber das ist drei Jahre her, und er kann sich seitdem verändert haben."
Kit lächelte sie an. „Sei unbesorgt. Ich werde nicht enttäuscht sein, wenn er mir die kalte Schulter zeigt."
Wie sich bald herausstellte, wurde Kit keineswegs die kalte Schulter gezeigt. Da er es kaum noch erwarten konnte, ritt er schon kurz nach ihrem Gespräch nach Winterset, und als er von dort zurückkehrte, strahlte er über das ganze Gesicht und war ganz hingerissen von den neuen Nachbarn.
„Er ist wirklich in Ordnung", ließ er Anna wissen und grinste schelmisch. „Du hattest vollkommen Recht - kein bisschen anmaßend und selbstgefällig. Ich mag ihn."
„Das freut mich", erwiderte Anna erleichtert.
„Es waren noch einige andere Leute da, genau
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