Das Geheimnis
meines Mannes machen würde.«
Reiko hatte gehofft, die Hochzeitsfeierlichkeiten würden sie vom Heimweh und ihrer Furcht vor dem neuen Leben ablenken. Der Tod von Konkubine Harume und die Möglichkeit, dass eine Epidemie ausbrach, erschienen Reiko im Vergleich zu diesen Ängsten mit einem Mal belanglos. Wie konnte sie, die das Haus ihres Vaters nie länger als ein, zwei Tage verlassen hatte, hier für immer leben – mit einem Mann, der ihr völlig fremd war? Wenngleich sich wegen Sanos Auftrag der beängstigende Sprung in diese ungewisse Zukunft noch ein wenig verzögerte, so fürchtete sich Reiko doch schon jetzt davor.
Das ehemalige Kindermädchen schnalzte mit der Zunge. »Nun, Ihr könntet Euch jetzt umkleiden. Die Hochzeit ist vorbei. Tauscht den Brautkimono gegen etwas Bequemeres.«
Mit O-sugis Hilfe zog Reiko das weiße Hochzeitsgewand und den roten Unterkimono aus und kleidete sich in einen prachtvollen Seidenkimono, der zu ihrer Aussteuer gehörte. Der Stoff war mit tiefroten Ahornblättern vor dem Hintergrund herbstbrauner Gräser bedruckt; doch es war ein tristes, nüchternes Kleidungsstück im Vergleich zu den farbenfrohen, leuchtend bunten Kimonos, die Reiko üblicherweise trug. Anders als beim Hochzeitskimono, bei dem die Ärmel bis zum Boden gereicht hatten, fielen sie bei diesem nur bis zu den Hüften wie bei verheirateten Frauen üblich. Außerdem steckte O-sugi Reikos langes Haar zum ersten Mal nach der Mode vornehmer Ehefrauen auf dem Scheitel zu einem Knoten zusammen. Während Reiko vor dem Spiegel stand und beobachtete, wie die äußeren Zeichen ihrer Jugend verschwanden, bis eine reifere und ältere Frau ihr aus dem Spiegel entgegenschaute, wurde sie noch unglücklicher als zuvor.
War sie verdammt dazu, in diesem Haus ein Leben in Abgeschiedenheit zu führen? Sollte der Sinn ihres Daseins allein darin bestehen, ihrem Ehemann Kinder zu gebären? War sie von nun an seine Dienerin in Haus und Bett? Mussten all ihre Träume schon am ersten Tag ihres Erwachsenenlebens sterben?
Reikos ungewöhnliche Mädchenjahre hatten bewirkt, dass sie einer Ehe eher skeptisch gegenüberstand. Sie war das einzige Kind des Magistrats Ueda; ihre Mutter war gestorben, als Reiko noch ein kleines Mädchen gewesen war, und der Magistrat hatte nie wieder geheiratet. Er hätte seiner Tochter keine Beachtung zu schenken brauchen und ihre Erziehung gänzlich in die Hände von Bediensteten und Hauslehrern legen können, doch Magistrat Ueda gehörte nicht zu den Männern, für die nur ein Sohn zählte: Er verehrte Reiko – die schon früh außergewöhnliche Klugheit gezeigt hatte – als lebendige Erinnerung an seine Frau und als Sinnbild all dessen, was er mit dem Tod seiner geliebten Gattin verloren hatte.
Mit vier Jahren kam Reiko auf ihren kurzen Beinchen in die Schreibstube ihres Vaters getippelt und schaute auf die Berichte, an denen er arbeitete. »Was heißt das hier? Und das? Und das?«, fragte sie und wies auf ein Schriftzeichen nach dem anderen.
Hatte der Magistrat es Reiko erst einmal erklärt, vergaß sie es nie mehr. Bald konnte sie einfache Sätze lesen. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie viel Freude ihr die Entdeckung bereitet hatte, dass jedes Zeichen eine eigene Bedeutung besaß, und dass mehrere untereinander stehende Schriftzeichen einen Gedanken ausdrückten, oder eine Idee. Bald ließ Reiko ihre Puppen liegen und verbrachte Stunden damit, große Papierbögen zu beschriften. Magistrat Ueda hatte das ungewöhnliche Interesse seiner Tochter gefördert und Privatlehrer eingestellt, die Reiko in Lesen, der Kalligrafie, der Geschichte, der Mathematik, der Philosophie und den chinesischen Klassikern unterrichteten – Dinge, die üblicherweise nur einem Sohn gelehrt wurden. Und als der Magistrat beobachtete, wie seine sechsjährige Tochter ein Schwert gegen einen unsichtbaren Feind schwang, stellte er Waffenmeister ein, die Reiko in der Kunst des kenjutsu – dem Schwertkampf der Samurai – und im Kampf ohne Waffen ausbildeten.
»Eine weibliche Samurai muss wissen, wie sie sich in einem Krieg zu verteidigen hat«, erklärte Magistrat Ueda den beiden sensei, die sich anfangs sträubten, ein Mädchen zu unterrichten.
Reiko konnte sich noch gut daran erinnern, wie herablassend die beiden Männer sie behandelt und wie sie in den Unterrichtsstunden versucht hatten, ihrer Schülerin die Kampfkunst, diese männliche Domäne, zu verleiden. Die sensei hatten Reiko bei den Übungskämpfen stets größere
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