Das Geheimnis
Ausruf:
»Geliebte Mutter! Ich habe soeben einen schrecklichen … äh, Schock erlitten. Bitte, komm zu mir, ich brauche deinen Rat!«
Fürstin Keisho-in durchquerte die Halle und ließ sich neben ihrem Sohn auf dem Podium nieder. Als er ihr von Sanos Neuigkeit erzählte, hielt sie ihm die Hand. »Wie traurig!«, rief sie dann, zog einen Fächer aus dem Ärmel und wedelte damit heftig vor ihrem Gesicht. »Deine Aussichten, einen Erben zu bekommen … meine Aussichten, Großmutter zu werden … Sie sind dahin! Oh! Ach!«, jammerte sie laut. »Und ich wusste nicht einmal, dass Harume ein Kind erwartet.«
Täuschte sie den Kummer und die Unwissenheit nur vor? Keisho-ins Brief an Harume hatte Sanos Einschätzung der Fürstin als einer alten Dame mit schlichtem Verstand gründlich geändert. Und er vermutete, dass auch die Frauen im Inneren Schloss mehr über die Geschehnisse wussten als Dr. Kitano. Fürstin Keisho-in war ganz und gar nicht so dumm, wie es schien. Hatte sie von Harumes Schwangerschaft erfahren, die Bedrohung für sich selbst erkannt und die erforderlichen Schritte unternommen, um diese Bedrohung abzuwenden?
Jedenfalls war Sano eine schwere Entscheidung abgenommen worden: Keisho-ins Erscheinen machte es unmöglich, ihren Brief an Harume der Versammlung vorzulegen: Wenn Sano das Schreiben vor der Fürstin, dem Shôgun und den Fünf Ältesten verlas, würde dies einer offiziellen Mordanklage gleichkommen – und dazu war er noch nicht bereit; erst brauchte er zusätzliche Beweise gegen die Mutter des Shôguns. Deshalb musste er weiterhin die Last seines Geheimnisses tragen, ungeachtet seiner Pflicht, Tokugawa Tsunayoshi auf dem Laufenden zu halten. Neue Hoffnung keimte in Sano auf. Vielleicht würden seine weiteren Ermittlungen die Unschuld der Fürstin beweisen.
»Wir sprachen gerade über … äh, Probleme, die durch den Mord an Harume entstanden sind«, erklärte Tokugawa Tsunayoshi seiner Mutter, »und über die Fortschritte, die sôsakan Sano bei seinen Ermittlungen macht. Geliebte Mutter, gewähre uns die Güte, und hilf uns mit deinem klugen Rat.«
Keisho-in tätschelte dem Shôgun die Hand. »Deshalb bin ich gekommen. Mein Sohn, du musst die Nachforschungen einstellen lassen und sôsakan Sano befehlen, seine Sonderermittler unverzüglich aus dem Inneren Schloss abzuziehen!«
Erschreckt sagte Sano: »Aber, Fürstin Keisho-in … Ihr selbst habt uns das Recht gewährt, die Bewohnerinnen und Bediensteten des Inneren Schlosses zu vernehmen und nach Beweisen zu suchen. Und damit sind wir noch nicht fertig.«
Einige Ratsmitglieder hoben die Brauen; verstohlene Blicke wurden gewechselt. »Mit allem gebotenen Respekt, ehrenwerte Fürstin, aber der Innere Palast ist der Schauplatz des Verbrechens«, sagte Makino, der Sano damit – wenngleich mit merklichem Widerwillen – zu Hilfe kam.
»Weshalb wir die Nachforschungen darauf konzentrieren sollten«, wurde Makino wiederum von Kammerherr Yanagisawa unterstützt. Als auch die anderen Ältesten zustimmend nickten, beobachtete Yanagisawa Sano und Fürstin Keisho-in, wobei ein seltsames Lächeln seine Lippen umspielte.
Sogar der Shôgun war sichtlich erstaunt. »Liebste Mutter, es ist … äh, unumgänglich, dass der Mörder meines Erben gefasst und bestraft wird. Wie kannst du sôsakan Sano die Gelegenheit nehmen, seinen … äh, Auftrag zu Ende zu führen?«
»Ich wünsche so sehr wie jeder andere, dass der Mörder für seine Tat bezahlt«, sagte Keisho-in, »aber nicht auf Kosten des Friedens im Inneren Schloss. Ach weh!« Mit dem Ärmel ihres Gewandes wischte sie sich die Tränen ab, und ihre Stimme zitterte vor Gefühl. »Nichts kann das Kind zurückbringen, das mit Harume gestorben ist. Wir müssen der Vergangenheit Lebewohl sagen und für die Zukunft planen.« Sie lächelte ihren Sohn zärtlich an. »Damit die Tokugawa auch in Zukunft die Herrscher dieses Landes bleiben, musst du die Gedanken an Rache vergessen und dich darauf konzentrieren, noch einmal einen Erben zu zeugen.« Sie wandte sich an die Versammlung. »Und nun erlaubt einer alten Frau, Euch Männern ein paar Rat schläge zu erteilen.«
In der leicht herablassenden Art, mit der eine Aufpasserin ein begriffsstutziges Kind belehrt, wandte Keisho-in sich an die führenden Männer Japans. »Der weibliche Körper ist äußeren Einflüssen gegenüber sehr empfindlich. Das Wetter, die Mondphasen, ein Streit, unangenehme Geräusche, ein Bissen verdorbenes Essen – das alles und noch viel
Weitere Kostenlose Bücher