Das Geheimnis
einem Brief, in dem er sie anwies, seinen Namen auf ihren Körper zu tätowieren.« Er schilderte die Liebschaft zwischen Harume und dem Fürsten und erklärte, dass Fürstin Miyagi dieses Verhältnis nicht nur gutgeheißen, sondern sogar gefördert hatte.
»Was?«, rief Tokugawa Tsunayoshi wutentbrannt. »Miyagi hat meine Konkubine angerührt und sie dann getötet? Das ist ungeheuerlich! Nehmt den Mann auf der Stelle fest!«
»Es gibt keinen Beweis, dass Fürst Miyagi die Tusche vergiftet hat«, sagte Sano. »Das hätte auch jemand anders tun können – auf dem Anwesen der Miyagis, hier im Palast oder beim Transport der Tusche. Der Fürst und seine Gemahlin bleiben vorerst unter Beobachtung. Außerdem habe ich Nachforschungen über Konkubine Harumes Herkunft und ihr Vorleben aufgenommen, weil die Möglichkeit besteht, dass die Wurzeln für ihre Ermordung dort zu suchen sind. Ich habe ihren Vater vernommen … und ihr Gemach durchsucht.«
Sano hörte, wie Hirata nervös nach Luft schnappte. Der Brief von Fürstin Keisho-in fühlte sich wie eine scharfe Klinge an, die sich in Sanos Fleisch grub. Die Pflicht verlangte von ihm, den Shôgun über alle Erkenntnisse zu informieren, doch Sano zögerte. Jeder Japaner, der ein Mitglied des Tokugawa-Klans eines Verbrechens bezichtigte, setzte sein Leben aufs Spiel. Jede Beleidigung, ob durch Wort oder Tat, konnte als persönlicher Angriff auf den Shôgun ausgelegt werden – ob Fürstin Keisho-in nun Harumes Mörderin war oder nicht, änderte nichts daran. Wenn Sano die Mutter des Shôguns anklagte, ob zu Recht oder nicht, konnte dies als Hochverrat ausgelegt werden und für Sano mit der Todesstrafe enden.
»Eine brillante Strategie«, sagte Kammerherr Yanagisawa, und seine Augen funkelten vor Begeisterung. »Und was habt Ihr herausgefunden?«
Nun war es so weit. Nun war die Zeit gekommen, den Brief von Fürstin Keisho-in zu verlesen und von Jimbas Aussagen zu berichten. Nun war die Zeit gekommen, den Mut eines Samurai zu beweisen. Sano kämpfte einen inneren Kampf. Sein Verstand schrie auf, und sein Magen verkrampfte sich. »Ich habe inzwischen ein genaueres Bild gewonnen, was den Charakter von Konkubine Harume betrifft. Vielleicht kann ich auf diese Weise besser verstehen, wie es zu ihrer Ermordung kommen konnte«, erwiderte er ausweichend. Das Haar und die Fingernägel, die er in Harumes Kleidung gefunden hatte, verschwieg Sano, denn noch wusste er nicht, ob der Fund für diesen Fall von Bedeutung war. »Und ich bin auf neue Spuren gestoßen, denen ich noch nachgehen muss.« Sano beschloss, Keisho-ins Brief erst zu einem späteren Zeitpunkt des Treffens vorzulegen, und schalt sich deshalb einen Feigling.
Hirata stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus, dass ihm und Sano Fragen nach Konkubine Ichiteru vorerst erspart blieben. Auf Yanagisawas Gesicht glaubte Sano einen Ausdruck der Enttäuschung zu erkennen, während Makino, der Vorsitzende des ältesten Staatsrates, seinen Verbündeten noch immer verwundert musterte und sich offenbar fragte, weshalb dieser plötzlich darauf verzichtete, Sano in Misskredit zu bringen. Schließlich erklärte Makino: »Mit anderen Worten, sôsakan-sama, habt Ihr viel Zeit verschwendet, Euch mit Konkubine Harume zu beschäftigen, ohne irgendetwas Bedeutsames herauszufinden.«
Sano triumphierte innerlich. »Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein«, erklärte er und wandte sich an den Shôgun. »Ich fürchte, Ihr müsst Euch auf sehr schlechte Nachrichten gefasst machen«, sagte er, woraufhin gespanntes Schweigen einsetzte. Dann sprudelte Sano hervor: »Konkubine Harume war schwanger, mein Fürst.«
Alle Versammelten schnappten hörbar nach Luft; dann breitete sich tiefe Stille im Saal aus. Wenngleich die Fünf Ältesten sich ihr Erschrecken nicht anmerken ließen, sah Sano, wie es in ihnen arbeitete, wie sie nach Erklärungen suchten und mögliche Konsequenzen überdachten. Tokugawa Tsunayoshi erhob sich schwankend; dann sank er wieder auf die Knie.
»Mein ungeborener Sohn!«, rief er aus, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. »Mein sehnlichst erwarteter Erbe! Im Mutterleib ermordet!«
»Ich höre zum ersten Mal, dass Konkubine Harume schwanger gewesen sein soll«, sagte Makino. »Sämtliche Konkubinen werden regelmäßig von Doktor Kitano untersucht, aber er hat bei Harume keine Schwangerschaft festgestellt.« Die vier anderen Ältesten nickten zustimmend. »Wie also seid Ihr an diese Information gelangt,
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