Das Geheimnis
spürte, dass ihr Vater die Heiratsverhandlungen am liebsten auf der Stelle abgebrochen hätte, aber keinen triftigen Grund dafür fand. Also beschloss Reiko, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
»Ihr wisst doch von dem Krieg gegen Korea vor 98 Jahren, nicht wahr? Meint Ihr, Japan hätte Korea erobern können, wenn unsere Heerführer die Kämpfe nicht eingestellt und die Truppen zurückgezogen hätten?«, fragte sie den Bürokraten.
»Oh … äh, nun ja, das … weiß ich nicht genau«, stammelte er und musterte sie verwundert. »Ich habe nie darüber nachgedacht.«
Aber Reiko. Während ihre Großmutter und der Mittelsmann sie entgeistert anstarrten und ihr Vater sein Lächeln zu verbergen suchte, tat Reiko ihre Meinung kund, dass ein japanischer Sieg über Korea möglich gewesen wäre, um anschließend in aller Ausführlichkeit die Begründung dafür zu liefern. Am Tag darauf beendete der Bürokrat die Heiratsverhandlungen mit einem Brief, in dem zu lesen stand: »Fräulein Reiko ist vorlaut, unverschämt und viel zu respektlos, als dass sie eine gute Ehefrau abgeben könnte. Ich wünsche Euch viel Glück bei der Suche nach einem passenden Gemahl.«
Weitere miai mit anderen unansehnlichen Freiern hatten ähnlich geendet. Reikos Familie protestierte, schimpfte, zürnte – und gab schließlich verzweifelt auf. Das Mädchen jubelte vor Freude. Dann, an Reikos 19. Geburtstag, bat Magistrat Ueda sie in seine Schreibstube und sagte traurig: »Tochter, ich habe Verständnis für deine Abneigung gegen die Ehe. Es ist auch meine Schuld. Schließlich habe ich dich ermuntert, dass du dich mit Dingen beschäftigst, die üblicherweise Männersache sind. Doch irgendwann kommt der Tag, da ich mich nicht mehr um dich kümmern kann. Du brauchst einen Mann, der dich beschützt, wenn ich nicht mehr bin.«
»Vater, ich habe die Geschichte und die Künste studiert und den Kampf mit und ohne Waffen geübt. Ich kann für mich selbst sorgen«, protestierte Reiko, obwohl sie wusste, dass ihr Vater Recht hatte. Frauen hatten keine Regierungsämter inne, führten keine Unternehmen und gingen nur wenigen Berufen nach: Sie arbeiteten als Dienerinnen, als Bauernmägde, als Hausmädchen, als Nonnen oder als Prostituierte. Das eine wie das andere widerte Reiko an – allerdings auch die Aussicht, für immer auf Kosten der Familie zu leben. Nein, ihr Vater hatte Recht. Reiko verneigte sich und gestand ihre Niederlage ein.
»Wir haben ein neues Heiratsangebot bekommen«, sagte Magistrat Ueda. »Lass die Verhandlungen diesmal bitte nicht wieder scheitern, indem du wie üblich deine Abneigung zeigst. Es könnte sein, dass sich dann nie mehr ein Freier bei uns meldet. Nun – das neue Angebot kommt von Sano Ichirō, dem ehrenwerten obersten Ermittler des Shôguns.«
Mit einem Ruck hob Reiko den Kopf. Wie alle Bürger Edos, so kannte auch sie den Namen von sôsakan Sano. Sie hatte Gerüchte über seinen Heldenmut gehört und darüber, dass er dem Shôgun irgendeinen großen, geheimnisvollen Dienst erwiesen hatte. Ihr Interesse war geweckt. Sie wollte diesen berühmten Mann gern kennen lernen und willigte in den miai ein.
Und Sano enttäuschte sie nicht. Als Reiko, Magistrat Ueda, der Mittelsmann Noguchi, Sano und dessen Mutter über das Gelände des Kannei-Tempels schlenderten, musterte Reiko den sôsakan verstohlen: Er war ein kräftiger, hoch gewachsener Mann von stolzer und würdevoller Haltung, jünger als alle vorherigen Freier, und der mit Abstand bestaussehendste. Wie die Tradition es verlangte, sprachen Reiko und Sano direkt kein Wort miteinander, doch Reiko sah die wache Intelligenz in den Augen dieses Mannes und hörte sie aus seiner Stimme heraus. Überdies wusste sie, dass Sano die Jagd nach dem Bundori-Mörder leitete, dessen grauenhafte Bluttaten ganz Edo in Furcht und Schrecken versetzten. Sano war kein träger Trunkenbold wie der fette bakufu- Beamte , der seine Pflichten vernachlässigte und stattdessen die Freudenhäuser in Yoshiwara besuchte. Sano jagte gefährliche Verbrecher und Mörder und führte sie der gerechten Strafe zu. Reiko erschien er wie die Verkörperung der Kriegshelden, die sie seit ihrer Kindheit verehrte. Nun hatte sie die Möglichkeit, Sanos aufregendes Leben mit ihm zu teilen. Und als sie Sano betrachtete, durchlief ein wohliger Schauder ihren Körper. Plötzlich kam ihr die Ehe gar nicht mehr so schrecklich vor. Kaum waren sie wieder daheim, bat Reiko ihren Vater, Sanos Heiratsangebot
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