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Das Geheimnis

Das Geheimnis

Titel: Das Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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und stärkere Jungen als Gegner gegenüber gestellt. Doch Reikos Stolz war so unbeugsam wie ihr Wille. Mit zerzaustem Haar und in durchgeschwitzter, blutbefleckter weißer Übungskleidung hatte sie mit ihrem Holzschwert so wild auf ihre Gegner eingedroschen, bis diese unter dem Hagel von Schlägen zu Boden gingen. Einmal hatte sie einen Jungen im Ringkampf besiegt, der doppelt so groß war wie sie. Ihre Belohnungen waren die Achtung und Bewunderung gewesen, die sie in den Augen ihrer Lehrer gesehen hatte – und die beiden stählernen Samuraischwerter, die vom Magistrat geschenkt worden waren. Von da an hatte Reiko jedes Jahr ein neues, längeres Paar Schwerter von ihrem Vater bekommen, bis sie erwachsen geworden war. Reiko liebte Geschichten über historische Schlachten und malte sich mitunter aus, sie wäre Minamoto-no-Yoritomo oder Tokugawa Ieasu, beides gewaltige Kämpfer und große Kriegsherrn. Reikos Spielgefährten waren die Söhne der Gefolgsmänner ihres Vaters gewesen; die Mädchen in ihrem Alter waren in Reikos Augen schwächliche und frivole Wesen. Reiko war sicher gewesen, dass sie als einziges Kind ihres Vaters eines Tages sein Amt als Magistrat von Edo erben würde – und darauf wollte sie vorbereitet sein.
    Doch Lehrer und Freunde hatten Reiko schließlich auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. »Ein Mädchen kann niemals Magistrat werden«, hatten sie gesagt. »Mädchen heiraten, ziehen die Kinder groß und dienen ihren Ehemännern.«
    Außerdem hatte Reiko einmal ungewollt mit angehört, wie die Großmutter zu ihrem Vater gesagt hatte: »Es ist ein Fehler, dass du Reiko wie einen Jungen behandelst. Wenn du diese lächerlichen Unterrichtsstunden nicht einstellen lässt, wird das Mädchen niemals wissen, wo sein Platz in der Welt ist. Lass Reiko lieber all das lernen, was eine Frau beherrschen muss, sonst bekommt sie nie einen Ehemann!«
    Magistrat Ueda fand schließlich einen Mittelweg: Die Waffenübungen und der Unterricht nahmen zwar ihren Fortgang, doch Reiko lernte außerdem zu nähen, zu musizieren, Blumen zu stecken und die Kunst der Teezeremonie. Und immer noch hatte sie an ihren Träumen festgehalten. Ihr Leben sollte anders verlaufen als das anderer Frauen. Reiko wollte Abenteuer erleben und Ruhm erlangen.
    Als sie 15 war, überzeugte ihre Großmutter den Magistraten, dass es an der Zeit sei, seine Tochter zu verheiraten. Reikos erster miai – das förmliche Treffen zwischen einer Braut, dem Freier und den beiden Familien –, hatte am Zôjô-Tempel stattgefunden. Doch Reiko, die das Leben ihrer Tanten und Kusinen beo bachtet hatte, wollte nicht heiraten. Sie wusste, dass eine Frau jedem Befehl ihres Mannes gehorchen, seinen Launen nachkommen und seine Beschimpfungen über sich ergehen lassen musste; sogar den Missbrauch durch ihren Gatten musste sie ertragen. Selbst der in der Öffentlichkeit meistgeachtete Gemahl konnte ein Haustyrann sein, der seiner Frau jederzeit den Mund verbieten, ihr seine sexuellen Wünsche aufzwingen und so viele Kinder zeugen durfte, wie es ihm gefiel, bis die Kraft und Gesundheit seiner Frau aufgezehrt waren – woraufhin der Mann seine fleischliche Lust oft bei Konkubinen oder Prostituierten befriedigte. Und während Männer nach Hause kommen und wieder gehen durften, wie es ihnen beliebte, musste eine Frau von Reikos gesellschaftlichem Rang stets daheim bleiben, es sei denn, der Gatte erteilte ihr die ausdrückliche Erlaubnis, zu religiösen Feierlichkeiten oder bei Familienangelegenheiten das Haus zu verlassen. Die häuslichen Aufgaben wurden von Dienerinnen erledigt, was jedoch nur zur Folge hatte, dass die Dame des Hauses sich nutzlos vorkam und in Langeweile verfiel. Für Reiko war die Ehe wie eine Falle, vor der man sich in Acht nehmen musste. Und ihr erster Freier war nicht gerade der Mann gewesen, der dazu angetan war, Reikos Meinung über die Ehe zu ändern.
    Er war ein reicher, hochrangiger Tokugawa-Bürokrat von 40 Jahren gewesen – ein fetter, dummer Kerl. Sie hatten damals im Freien gegessen, unter blühenden Kirschbäumen, wobei Reikos Verehrer sich einen derartigen Rausch antrank, dass er schlüpfrige Bemerkungen über bekannte Kurtisanen aus dem Vergnügungsviertel Yoshiwara machte. Zu ihrem Entsetzen sah Reiko, dass weder der Mittelsmann noch ihre Großmutter Abscheu vor diesem widerlichen Freier erkennen ließen; der Reichtum und der Status des Mannes hatten sie geblendet. Nur Magistrat Ueda wich dem Blick seiner Tochter aus; Reiko

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