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Das Geheimnis

Das Geheimnis

Titel: Das Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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anzunehmen.
    Doch als der Termin für die Hochzeit festgesetzt wurde, kehrten Reikos Zweifel und die Ängste vor der Ehe wieder zurück. Ihre weiblichen Verwandten rieten ihr, ihrem Ehemann zu gehorchen und zu dienen; die Geschenke – Kochutensilien, Nähzeug, Möbel – symbolisierten die Rolle als Hausfrau, die Reiko übernehmen musste. Ihre Bücher und die Schwerter blieben in der Villa der Uedas zurück. Bei Sanos Anblick war für einen Moment Hoffnung in Reiko aufgekeimt: Er war so gut aussehend, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Nun aber befürchtete sie, dass ihr weiteres Leben sich in keiner Weise von dem anderer Ehefrauen unterscheiden würde. Ihr Gatte war in wichtigem Auftrag unterwegs, erlebte vielleicht aufregende Abenteuer – und sie saß zu Hause. Es gab keinen Grund zu der Annahme, dass sôsakan Sano sie anders behandeln würde als andere Männer. Panik ergriff von Reiko Besitz.
    Was hatte sie getan? War es schon zu spät, aus dieser Falle zu entkommen?
    O-sugi erschien mit einem Tablett und stellte es auf Reikos Frisierkommode. Reiko sah, dass sich ein Pinsel auf dem Tablett befand, dazu ein Spiegel, ein Keramikbecken und zwei Schüsseln, die zueinander gehörten und von der die eine Wasser, die andere eine dunkle Flüssigkeit enthielt. Ihr Herz zog sich zusammen.
    »Nein!«
    O-sugi seufzte. »Reiko-chan, Ihr müsst Euch die Zähne schwarz färben, das wisst Ihr doch. Es ist Brauch bei verheirateten Frauen – ein Beweis der Treue zu ihrem Gemahl. Also, kommt.« Sanft, aber bestimmt setzte O-sugi die junge Frau vor die Frisierkommode. »Je eher wir fertig sind, desto besser.«
    Mit zitternder Hand tauchte Reiko den Pinsel in die Schüssel und verzog den Mund zu einer übertriebenen Grimasse. Als sie den ersten Pinselstrich machte und die Schneidezähne schwärzte, fiel ihr ein Tropfen Farbe auf die Zunge. Ihre Kehle war mit einem Schlag wie zugeschnürt, und Speichel schoss ihr in den Mund. Das Färbemittel, das sich aus Tusche, Eisenspänen und Pflanzenextrakten zusammensetzte, schmeckte bitter wie Galle.
    »Igitt!« Reiko spuckte den Farbstoff in das Keramikbecken. »Wie soll man das aushalten?«
    »Alle verheirateten Frauen halten das aus; also könnt Ihr es auch. Und das Schwärzen muss zweimal im Monat geschehen, sonst wird die Farbe zu blass. Also los, weiter. Und passt auf, dass Ihr Euch nicht die Lippen oder den Kimono schmutzig macht.«
    Keuchend und würgend trug Reiko eine Farbschicht nach der anderen auf. Schließlich spülte sie sich den Mund aus, spuckte das Wasser ins Becken, hielt sich den Spiegel vors Gesicht und betrachtete sich voller Abscheu. Die stumpfen, schwarzen Zähne bildeten einen hässlichen Kontrast zu Reikos weiß gepudertem Gesicht und den blutrot geschminkten Lippen, wodurch jede noch so kleine Unregelmäßigkeit ihrer Haut hervorgehoben wurde. Mit der Zungenspitze fuhr Reiko über ihren abgebrochenen Schneidezahn, wie sie es sonst nur tat, wenn sie aufgeregt oder zornig war. Für ihre 20 Jahre sah sie alt aus – und hässlich. Die Zeit ihrer Studien und der Waffenübungen war vorüber, und die Hoffnung auf eine romantische Liebesbeziehung zerschlug sich mehr und mehr. Wie konnte ihr Mann sie jetzt noch für etwas anderes wollen als für Knechtschaft und ewigen Gehorsam?
    Reiko unterdrückte ein Schluchzen. O-sugi bemerkte es und betrachtete sie mitleidig. Sie selbst war im Alter von 14 Jahren mit einem Ladeninhaber in Nagasaki verheiratet worden, einem Mann mittleren Alters, der sie jeden Tag verprügelt hatte, bis die Nachbarn sich über die ständigen Schreie beschwerten. Der Fall war Magistrat Ueda vorgetragen worden, der den Ladeninhaber zu einer Prügelstrafe verurteilt, O-sugi die Scheidung gewährt und sie als Kindermädchen für seine Tochter eingestellt hatte, die damals noch ein kleines Kind gewesen war. O-sugi war die einzige Mutter, die Reiko je kennen gelernt hatte. Mittlerweile waren die Bande zwischen ihnen unzerreißbar. Und nun befanden sie sich trotz aller Unterschiede in einer ähnlichen Lage: Die eine war reich, die andere arm, doch beide waren sie Gefangene ihrer gesellschaftlichen Klasse, und ihrer beider Schicksal hing von Männern ab.
    O-sugi umarmte Reiko und sagte traurig: »Meine arme junge Herrin. Das Leben wird leichter für Euch sein, wenn Ihr es so nehmt, wie es ist.« In dem Bemühen, ein wenig Fröhlichkeit zu verbreiten, fügte sie hinzu: »Nach all dem Wirbel um die Hochzeitsfeier müsst Ihr kurz vor dem Hungertod stehen. Wie wäre

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