Das Geheimnis
gewisse Dinge in Erfahrung gebracht«, sagte Sano und hatte dabei das Gefühl, die Grenze zwischen sicherem Gelände und einem Schlachtfeld zu überschreiten. »Wie war Euer Verhältnis zu Konkubine Harume?«
Keisho-in zuckte mit den Schultern und steckte sich ein Stück gedünsteten Fisch in den Mund. »Ich hatte sie sehr gern.«
»Ihr wart also Freundinnen?«, fragte Sano.
»O ja, gewiss.«
»Mehr als Freundinnen?«
»Was wollt Ihr damit sagen?«, meldete Ryuko sich zu Wort.
Sano beachtete ihn nicht. »Das hier ist Harumes Tagebuch«, sagte er, band die Kordel los, schlug das Buch auf und las die verborgenen Worte einer erotischen Liebe, wobei er den letzten Abschnitt besonders betonte:
» Aber, ach! Dein Rang und dein Ruhm,
Bergen Gefahr für uns beide.
Nie können wir Seite an Seite gehen
Im hellen Tageslicht.
Doch die Liebe ist ewig,
Und du bist mein für immer
Wie ich für immer die deine bin,
Und so sind wir vereint,
Wenn nicht als Mann und Frau,
So doch im Geiste. «
»Hat Harume diese Zeilen an Euch geschrieben, ehrenwerte Fürstin?«, fragte er dann.
Keisho-in starrte ihn offenen Mundes an, wobei sie ihm einen unappetitlichen Blick auf die breiige Masse des halb zerkauten Fisches gewährte. »Unmöglich!«
»Die Erwähnung von Rang und Ruhm trifft auf Euch zu«, sagte Sano.
»Aber in dem Abschnitt wird die ehrenwerte Keisho-in kein einziges Mal namentlich genannt«, meldete Ryuko sich zu Wort. »Hat Harume in ihrem Tagebuch erwähnt, dass sie irgendwelche Liebhaber hatte?«
»Nein«, gab Sano zu.
»Dann muss sie über jemand anderen geschrieben haben.« Ryukos Stimme blieb ruhig und freundlich, doch er zog die Beine unter der Decke hervor, als wäre ihm plötzlich zu warm geworden.
»Kurz bevor Harume starb«, sagte Sano, »hat sie ihren Vater angefleht, sie aus dem Palast und nach Hause zu holen. Sie schrieb, sie habe Angst vor irgendjemand. Hat sie Euch damit gemeint, Fürstin Keisho-in?«
»Das ist ja absurd!« Zornig verschlang die Fürstin ein Reisbällchen. Sano fragte sich, ob ihre Wut echt oder bloß gespielt war, um ihn zu täuschen. »Ich war stets freundlich und entgegenkommend zu Harume, mehr aber nicht.«
»Meiner Herrin gefallen Eure Andeutungen nicht, sôsakan-sama. « Ein warnender Unterton lag in Ryukos Stimme. »Wenn Ihr klug seid, solltet Ihr jetzt lieber gehen, bevor die ehrenwerte Fürstin beschließt, ihrem Missfallen Ausdruck zu verleihen, indem sie sich offizieller Mittel bedient.«
Die Drohung war deutlich. Hätte Sano allein mit Keisho-in geredet, hätte er vielleicht vorsichtig ihre Unschuld feststellen können, oder es wäre ihm möglicherweise gelungen, ihr ein Geständnis zu entlocken, ohne dass es zu einer offenen Auseinandersetzung gekommen wäre. Ryuko aber hatte deutlich gemacht, dass er niemals erlauben würde, dass seine Gönnerin als Mörderin endete, zumal er ihre Strafe würde teilen müssen. Der Priester wollte seine eigene Haut retten, indem er Sano attackierte … insbesondere wenn er an der Ermordung des ungeborenen Kindes von Tokugawa Tsunayoshi beteiligt gewesen war. Innerlich verfluchte Sano seine Wahrheitsliebe, die ihn dazu verdammte, sich möglicherweise den eigenen Scheiterhaufen zu errichten; doch er musste die Forderungen erfüllen, die seine Ehre und die Pflicht ihm auferlegten. Resigniert zog er den Brief hervor.
»Sagt mir bitte, ob Ihr diese Zeilen kennt, Fürstin Keisho-in«, sagte Sano und las vor:
»Du liebst mich nicht. Sosehr ich mir etwas anderes einzureden versuche, kann ich die Augen nicht länger vor der Wahrheit verschließen..«
Während Sano die Beschuldigungen, die Eifersucht und Leidenschaft und die Bitten um Harumes Liebe zitierte, beobachtete er die Reaktion der Anwesenden. Keisho-ins Augen wurden größer und größer, und auf ihrem Gesicht spiegelte sich Schock. Ryukos Miene zeigte zuerst Fassungslosigkeit, dann Entsetzen. Die beiden wirkten wie ein Gaunerpärchen, das Sano auf frischer Tat ertappt hatte. Doch er verspürte kaum Genugtuung. Fürstin Keisho-in würde von einem Rechtssystem, das ihr eigener Sohn beherrschte, mit größter Wahrscheinlichkeit verschont bleiben. Schon der Versuch, ein Urteil zu erwirken, konnte Sano das Leben kosten.
»… ich will dich so sehr leiden sehen, wie ich selbst leide. Ich könnte dich niederstechen und zuschauen, wie mit deinem Blut auch das Leben aus deinem Körper strömt. Ich könnte dich vergiften und mich an deinem Todeskampf weiden. Und wenn du um Gnade
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