Das Geheimnis
»So etwas Schreckliches würde ich niemals tun! Und auch mein Liebster nicht!«
»Wer ist dieser Zeuge?«, verlangte Ryuko zu wissen, dessen Miene nun Anspannung zeigte. Plötzlich loderte Zorn in seinen Augen. »Es war Ichiteru, nicht wahr? Diese verschlagene Hure, die meine Herrin von ihrem Platz als ranghöchste Frau Japans verdrängen will! Wahrscheinlich hat sie diese Lügen über uns verbreitet, weil sie selbst die Mörderin Harumes ist!« Der Priester starrte Sano finster an. »Und Ihr wollt uns einen Mord anhängen, um den Shôgun auf Eure Seite zu ziehen. Ihr habt dieses so genannte Tagebuch gefälscht, den Brief in Harumes Gemach geschmuggelt und ihrem Vater Geld gegeben, damit er belastende Aussagen über meine Herrin macht.«
Erschrocken erkannte Sano, wie schlüssig Ryukos Worte waren. Genau diese Argumente würde er zur Verteidigung gegen Sanos Anklagen vorbringen, und zweifellos würden sie sich für den unbedarften Shôgun vollkommen vernünftig anhören.
Sano wandte sich an die Fürstin. »Gewiss hatte Harume Zugang zu Euren Gemächern«, sagte er, »aber ebenso konntet Ihr in Harumes Zimmer. Habt Ihr die Tusche vergiftet, Fürstin Keisho-in?«
»Nein. Nein!«, stieß die Fürstin hervor, erbleichte und presste sich die Hände auf die Brust.
Sano blickte den Priester an. »Wo wart Ihr heute zwischen der Stunde der Schlange und Mittag?«
»In meinen Gemächern, bei Gebet und Meditation.«
»Wart Ihr allein?«
Keisho-in stieß leise Schmerzensschreie aus. Ryuko erwiderte ungeduldig: »Ja. Worauf wollt Ihr nun wieder hinaus?«
»Der fahrende Händler, der das Gift verkauft hat, mit dem Harume ermordet wurde, ist heute ebenfalls einem Mord zum Opfer gefallen.«
»Und Ihr habt die Frechheit, auch nur die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, ich könnte der Täter gewesen sein?« Ryukos wilder Zorn konnte seine Panik nicht übertünchen. Auf seinem Nachtgewand hatten sich große dunkle Schweißflecken gebildet, und seine Hände zitterten, während er die stöhnende, sich windende Keisho-in auf die Kissen bettete.
»Könnt Ihr beweisen, dass Ihr heute Morgen nicht im Hafenviertel Daikon gewesen seid?«, fragte Sano.
»Das ist ja verrückt! Ich kenne keinen Drogenhändler.« Ryuko streichelte seiner Geliebten über die Stirn. »Was ist mit Euch, Herrin?«
»Ein … Anfall«, sagte Keisho-in mit schwächlicher Stimme. »Helft mir … Ich habe … einen Anfall!«
»Wachen!«, rief Ryuko den Männern zu, die vor der Tür postiert waren. »Holt Doktor Kitano!« Dann blickte er Sano an. Sein Gesicht war rot vor Wut und Entsetzen. »Wenn sie stirbt, seid Ihr schuld daran!«
Sano bezweifelte, dass die alte Frau tatsächlich einen Anfall hatte, und er war nicht bereit, sich erneut von ihrer Schauspielerei ablenken zu lassen. Ryuko hatte kein Alibi für den Mord an Choyei, und damit sprachen die Beweise gegen ihn und die Fürstin so schwer, dass Sano jene Grenzlinie überschreiten musste, die er so gern hätte vermeiden wollen. Mit dem Gefühl, das eigene Verderben heraufzubeschwören, sagte er: »Mir bleibt keine Wahl, als Euch, Ryuko, und die Fürstin des Mordes an Harume und ihrem ungeborenen Kind sowie der gemeinschaftlichen Verschwörung und des Hochverrats gegen den Shôgun und sein Regime anzuklagen.«
Somit musste Tokugawa Tsunayoshi darüber entscheiden, was Wahrheit und was Lüge war. Sano und Hirata blickten einander niedergeschlagen an und erhoben sich, um zu gehen.
»Ihr seid die Verbrecher!«, schrie Ryuko sie an, während die Fürstin in die Kissen schluchzte, wobei ihre Schultern sich unter schweren Atemzügen hoben und senkten. »Ihr habt Euch gegen meine Herrin verschworen, um in Rang und Ansehen aufzusteigen, und nun habt Ihr die Gesundheit dieser armen Frau gefährdet. Aber damit kommt Ihr nicht durch! Wenn der Shôgun davon erfährt, werden wir ja sehen, wer seine Gunst behält – und wer als Verräter hingerichtet werden wird!«
Die Tür öffnete sich, und Ryuko rief erleichtert: »Endlich, der Arzt!«
Doch es war einer von Sanos Sonderermittlern, der von Palastwachen eskortiert wurde. Er hielt Sano ein zusammengefaltetes Schreiben hin. »Verzeiht, wenn ich störe, sôsakan-sama, aber ich habe eine wichtige Nachricht von Eurer Gemahlin. Sie besteht darauf, dass Ihr sie lest, bevor Ihr das Innere Schloss verlasst.«
Verwundert nahm Sano den Brief entgegen. Er fragte sich, was so wichtig sein mochte, dass es nicht warten konnte, bis er nach Hause kam. Während Ryuko sich
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