Das Geheimnis
besorgt um die stöhnende Keisho-in kümmerte, las Sano:
Ehrenwerter Gemahl,
wenngleich du mich angewiesen hast, mich aus den Ermittlungen im Mordfall Harume herauszuhalten, habe ich dir wieder nicht gehorcht. Doch sei nicht gleich zornig, sondern lies erst, was ich dir mitzuteilen habe.
Von einem vertrauenswürdigen Zeugen habe ich erfahren, dass der Schauspieler Shichisaburô sich am Tag nach der Ermordung Harumes als Frau verkleidet ins Innere Schloss geschlichen hat. Er hat irgendetwas aus dem Gemach von Fürstin Keisho-in geholt und in Harumes Zimmer gebracht. Ich glaube, es war ein Brief, aus dem hervorgeht, dass die Fürstin in den Mord an Harume verwickelt ist. Überdies glaube ich, das Shichisaburô den Brief auf Anweisung von Kammerherr Yanagisawa gestohlen und zum Schauplatz des Mordes gebracht hat, damit du ihn dort findest. Offenbar versucht der Kammerherr, Fürstin Keisho-in die Tat in die Schuhe zu schieben und dich auf diese Weise zu zwingen, sie des Mordes anzuklagen.
Um deinet- und meinetwillen bitte ich dich, sei auf der Hut, und geh Yanagisawa nicht in die Falle!
Reiko
Vor Schock war Sano wie gelähmt. Wortlos reichte er Hirata den Brief, damit auch er ihn lesen konnte. Trotz seiner früheren Bedenken, was Reikos Fähigkeiten als Ermittlerin betraf, konnte er ihre Theorie nicht widerlegen. Und er erkannte, dass die Rivalität zwischen der Fürstin und dem Kammerherrn tatsächlich noch größer war als seine eigene Feindschaft mit Yanagisawa. Außerdem trug die gesamte Verschwörung die geschickte Handschrift des Kammerherrn. Vor allem erklärte es, weshalb er sich in letzter Zeit Sano gegenüber so freundlich verhalten hatte: Yanagisawa rechnete damit, seinen alten Feind sehr bald loszuwerden – und Fürstin Keisho-in gleich dazu, denn sie war das zweite große Hindernis auf seinem Weg zur Macht. Yanagisawas Spitzel mussten den Brief bei einer geheimen Durchsuchung des Inneren Schlosses entdeckt haben. Daraufhin hatte Yanagisawa Sano seine Hilfe angeboten und sich Keisho-in widersetzt, als diese versucht hatte, die Nachforschungen zu behindern, denn der Kammerherr wollte ganz sichergehen, dass der Brief auch gefunden und sein Inhalt bekannt wurde. Und deshalb hatte er so erfreut auf die Nachricht reagiert, dass Harumes ungeborenes Kind, der mögliche Nachfolger des Shôguns, mit Harume gestorben war, denn dies machte aus dem schlichten Mord einen Hochverrat – ein Verbrechen, das sämtliche Rivalen des Kammerherrn vernichten würde.
In diesem Augenblick erkannte Sano, dass die verborgenen Zeilen in Harumes Tagebuch, die er vorhin erst vorgelesen hatte, sowie die Nachricht an ihren Vater sich auf jemand anderen beziehen mussten als auf Fürstin Keisho-in. Was wiederum bedeutete, dass Konkubine Ichiteru gelogen hatte. Sano schüttelte den Kopf. Wie kompliziert, wie verfahren dieser Fall war! Die Beweise gegen Keisho-in und Ryuko wurden bedeutungslos, wenn Harumes Brief nicht an die Fürstin gerichtet war – und genau das schien der Fall zu sein. Sano betrachtete das Paar nun mit anderen Augen. In Keisho-ins körperlichem Leiden sah er mit einem Mal die wirklichen Qualen einer Frau, die fälschlich des Mordes beschuldigt worden war, und bei Ryuko erkannte er die Verzweiflung eines unschuldigen Mannes, der um sein Leben kämpfte. Reikos Nachricht war gerade noch rechtzeitig gekommen, um eine offizielle Anklage Keisho-ins und Ryukos durch Sano zu verhindern. Aber konnte er den Schaden noch gutmachen, den er bereits angerichtet hatte?
»Was tun wir jetzt, sôsakan-sama?«, fragte Hirata bedrückt.
Keisho-in hatte sich in ein Becken erbrochen, wobei Ryuko ihr den Kopf gehalten hatte. Nun saß sie bleich und zitternd neben ihrem Geliebten, der ihr das verschwitzte Gesicht abwischte. Sano kniete vor dem Paar nieder und verneigte sich. »Ehrenwerte Fürstin Keisho-in, Priester Ryuko – Ich muss Euch um Verzeihung bitten. Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht.« Mit knappen Worten berichtete er dem Paar, was in Reikos Nachricht stand, und erzählte dann kurz von seinen eigenen Beobachtungen, die Reikos Meinung stützten. »Ich bitte Euch demütigst um Vergebung«, endete Sano.
Fassungslosigkeit spiegelte sich auf dem Gesicht der Fürstin, neuerlicher Zorn in der Miene Ryukos, der angewidert den Kopf schüttelte.
» Aiiya … ein so gut aussehender, galanter Mann wie Yanagisawa«, murmelte Keisho-in schließlich mit schwacher Stimme. »Ich kann nicht glauben, dass er uns so etwas antun
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