Das Geheimnis
Dolch im Unterschied zu einem Speer leicht unter der Kleidung versteckt werden konnte. »Was hat Kushida ausgesagt?«
»Nun, er hatte Konkubine Harume nicht schützen können, und darüber war er so verstört, dass ich nicht aus ihm herausbekam, wo er sich während des Angriffs aufgehalten hat«, sagte der Priester.
»Hat jemand anders ihn gesehen?«
»Nein. Die Eskorten hatten sich aufgeteilt, um verschiedene Damen durch den Tempelbezirk zu geleiten. Alle nahmen an, dass Kushida zu einer anderen Gruppe gehörte.« Der Priester runzelte die Stirn. »Ich kenne den Leutnant noch aus meiner Zeit als Wachposten im Palast. Ich hatte keinen Grund zu der Annahme, er könne für den Mordversuch verantwortlich sein, oder dass er vor dem Gesetz geflohen war. Andernfalls hätte ich herauszufinden versucht, wo er die ganze Zeit über gewesen ist. Tut mir Leid, dass ich Euch so wenig helfen kann.«
»Oh, Ihr habt mir sogar sehr geholfen«, erwiderte Hirata. »Ihr habt mir gesagt, was ich wissen wollte.«
Er war überzeugt, dass ein und derselbe Mann den Dolch nach Harume geschleudert, sie später vergiftet und auch Choyei getötet hatte. Leutnant Kushida hatte ausreichend Gelegenheit gehabt, all diese Verbrechen zu begehen, und er konnte überdies keine Alibis vorweisen. Hirata war zuversichtlich, Sanos Gunst zurückzuerlangen und seine Selbstachtung wiederherzustellen. Dazu aber musste er Leutnant Kushida aufspüren.
33.
I
m Wohnviertel der daimyo eskortierte eine Gruppe Soldaten eine einsame Sänfte, die vor einem Tor hielt, das ein Wappen mit zwei Schwänen zeigte. Der Kommandeur des Trupps wandte sich an die Torwachen: »Die Gemahlin des sôsakan-sama Seiner Hoheit, des Shôguns, wünscht dem Fürsten Miyagi einen Besuch abzustatten.«
»Wartet bitte«, erwiderte einer der Wächter der Miyagis. »Ich sage dem daimyo Bescheid, dass er eine Besucherin hat.«
Im Inneren der Sänfte zitterte Reiko vor Glück, Anspannung und Erwartung. Jetzt begann ihre Laufbahn als Ermittlerin wirklich. Früh am Morgen hatte sie sich mit Eri unterhalten, ihrer Cousine, die versprochen hatte, ein Treffen zwischen Reiko und Konkubine Ichiteru zu arrangieren. Nun aber bekam Reiko zum ersten Mal Gelegenheit, ihren Verstand mit dem eines Mordverdächtigen zu messen. Sie hoffte, dass Fürst Miyagi der Mörder war, damit ihr der Triumph zuteil wurde, den Täter zu überführen.
Während Reiko wartete, fingerte sie nervös an einer Schachtel Süßigkeiten herum, die sie den Miyagis als Höflichkeitsgeschenk mitgebracht hatte. Die Umstände hatten ihr einen perfekten Vorwand für diesen Besuch verschafft. Sie konnte nach düsteren Geheimnissen forschen, ohne dass Fürst Miyagi Verdacht schöpfen würde, was den wahren Grund ihres Erscheinens betraf. Wenngleich Reiko versuchte, sich zu beruhigen und sich auf die vor ihr liegende Aufgabe zu konzentrieren, schlich sich immer wieder ein Lächeln auf ihr Gesicht – und nicht nur deshalb, weil sie ihren Traum hatte Wirklichkeit werden lassen.
Ihre erste gemeinsame Nacht mit Sano hatte ihrem Leben eine neue Dimension eröffnet. Trotz des leichten Schmerzes zwischen ihren Beinen hatte die Liebe ihr ein ungekanntes Gefühl körperlichen und geistigen Wohlbefindens verschafft. Die Welt schien voller neuer, verlockender Herausforderungen zu sein, und Reiko fühlte sich bereit, sich jeder von ihnen zu stellen. Ungeduldig spähte sie aus dem Fenster der Sänfte zum Tor des Miyagi-Anwesens.
Endlich erschien ein Diener. »Fürst und Fürstin Miyagi lassen die ehrenwerte Sano Reiko zu sich in den Garten bitten.«
Reiko umklammerte die Schachtel mit dem Geschenk und stieg aus der Sänfte. Sie wies ihr Gefolge an, draußen zu warten; dann folgte sie dem Diener auf das Anwesen des daimyo. Reiko betrachtete die mauerartige Einfriedung, die von den Kasernen gebildet wurde, in denen die Wachen und Gefolgsleute wohnten, und betrat die Wachstube, in der sich nur zwei Samurai aufhielten. Hinter der Mauer, in der Mitte des ausgedehnten Innenhofes, stand eine Villa mit Fachwerkmauern und Ziegeldach. Ein einzelner Wachposten stand auf der Veranda vor dem Eingang; ansonsten wirkte alles gespenstisch leer. Reiko musste daran denken, dass Sano sie vor dieser Leere gewarnt hatte; doch nun schlug ihr das Herz vor gespannter Erwartung bis zum Hals. Sie war überzeugt, dass sich in der eigentümlichen Stille und Verlassenheit dieses Ortes das undurchschaubare Wesen des Fürsten Miyagi widerspiegelte. Reiko fragte sich, ob
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