Das Geheimnis
sie in wenigen Augenblicken dem Mörder von Konkubine Harume gegenüberstehen würde.
Sie folgte dem Diener durch ein weiteres Tor in einen abgeschiedenen Garten, in dem wie groteske Ungeheuer beschnittene Bäume standen, deren Stämme und Äste krumm und schief wuchsen, da sie künstlich verzerrt worden waren. Die Steine und Felsblöcke, welche zur Zierde dienten, waren dicke, phallische Säulen mit abgerundeten Spitzen. Aus einem Strauchdickicht erhob sich die schwarze Statue einer vielarmigen Gottheit; ein Zwitterwesen, halb männlich, halb weiblich, dessen Hände sowohl seine nackten Brüste als auch seine Erektion berührten. Sano hatte Reiko an diesem Morgen bereits gesagt, dass in der Villa der Miyagis eine seltsame Atmosphäre herrsche, doch bloße Worte hatten Reiko nicht auf die Wirklichkeit vorbereiten können. Ihre erste Nacht mit einem Mann, die ihre Fraulichkeit hatte erwachen lassen, hatte zugleich ihre Sinne geschärft, sodass sie mit ungewohnter Klarheit und Schärfe jede Veränderung ihrer Umgebung bemerkte. Auch im Garten war es eigenartig still. Das Sonnenlicht warf tiefe Schatten, das durch die Kronen der deformierten Bäume fiel. Reikos Nasenflügel bebten, als sie den Fäulnisgestank wahrnahm, der in der Luft lag.
Eine hübsche junge Frau zog ordentliche parallele Furchen in ein Beet aus weißem Sand, während eine andere die Karpfen im Fischteich mit Essensresten fütterte. Im Pavillon saß eine ältere Dame mit schlichtem, ernstem Gesicht und nähte. Ein Mann mittleren Alters, der einen verblichenen blauen Baumwollumhang trug, kniete neben einem Blumenbeet und schöpfte mit einer Kelle irgendetwas aus einem Holzeimer.
Plötzlich fürchtete sich Reiko, obwohl ihre Eskorte draußen vor dem Tor auf sie wartete. Noch nie hatte sie einen Mordverdächtigen vernommen. Ihr Wissen über Verbrecher beschränkte sich auf die Übeltäter, die sie im Gerichtssaal der väterlichen Villa aus der Sicherheit ihres Verstecks heraus beobachtet hatte. Nun aber gemahnte die eigentümliche und finstere Aura des Miyagi-Anwesens sie daran, dass sie sich im Freien befand, allein und ungeschützt. Reiko fragte sich, ob sie an die Information herankommen konnte, auf die sie es abgesehen hatte, ohne dass sie sich als Sanos Partnerin bei der Ermittlungsarbeit zu erkennen gab. Um Sanos Achtung zu behalten und der Ehre und Liebe zu dienen, musste ihr das gelingen. Aber war Fürst Miyagi wirklich der Mörder? Und was würde er tun, wenn er ihr Täuschungsmanöver durchschaute?
»Die ehrenwerte Sano Reiko«, verkündete der Diener.
Alle wandten sich ihr zu. Das Mädchen mit der Harke hielt abrupt inne, ebenso die andere junge Frau, die den Karpfen Essenreste zuwarf. Die Kelle, mit der Fürst Myiagi den Inhalt des Eimers verteilte, verharrte in der Luft, und die Frau im Pavillon ließ ihr Strickzeug sinken und schaute herüber. Während Reiko von den Miyagis und den Konkubinen in ausdruckslosem Schweigen gemustert wurde, konnte sie beinahe die unsichtbaren Bande zwischen diesen Menschen sehen, die wie das Flechtwerk eines Netzes waren. Der daimyo und die beiden jungen Frauen erhoben sich und gingen zum Pavillon, in dem Fürstin Miyagi saß. Reiko hatte den Eindruck, als würden sich die Teile einer fremdartigen Kreatur vereinen, um sich gemeinsam einer Bedrohung zu stellen. Sie unterdrückte ein angewidertes Schaudern und näherte sich der Gruppe.
Fürstin Miyagi verbeugte sich. »Euer Kommen ist eine Ehre für uns.« Sie lächelte, wobei sie ihre geschwärzten Zähne entblößte.
Dann folgte das übliche Ritual des gegenseitigen Vorstellens, das immerhin bewirkte, dass Reiko ihre Ängste und ihren Ekel ein wenig ablegte. »Ich bin gekommen, um mich für das wunderschöne Nähkästchen zu bedanken, das Ihr mir zur Hochzeit geschickt habt«, gab sie als Grund für ihren Besuch vor. »Bitte nehmt diese Kleinigkeit als Geste meiner Wertschätzung.«
»Wir danken Euch«, sagte Fürstin Miyagi, während eine der Konkubinen Reikos Päckchen entgegennahm. Der anderen jungen Frau befahl die Fürstin: »Hol Tee für unseren Gast, Zaunkönig.« Beide Mädchen eilten ins Haus. Fürstin Miyagi straffte die Schultern. »Wenn man zu lange sitzt, wird man steif«, sagte sie, »und nach der Reise in der Sänfte möchtet Ihr Euch gewiss ein wenig die Beine vertreten, nicht wahr? Kommt, gehen wir ein paar Schritte durch den Garten.«
Die Fürstin erhob sich und stieg vom Pavillon herunter. Ihre Schritte waren ruckartig und ohne
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