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Das Geheimnis

Das Geheimnis

Titel: Das Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Reiko, als sie erkannte, dass der widernatürliche Geschmack Fürst Miyagis noch viel weiter von der Normalität entfernt war, als sie oder Sano vermutet hatten. Reiko erinnerte sich an eine Gerichtsverhandlung ihres Vaters, bei der sie heimlich zugeschaut hatte. Der Angeklagte war ein Kaufmann gewesen, der eine Prostituierte während des Beischlafs erwürgt hatte, denn der Tod des Geschlechtspartners hatte diesem Mann die allergrößte fleischliche Lust verschafft. Hatte Fürst Miyagi ähnliche Empfindungen gegenüber Harume gehegt? Hatte er das Gift in die Tusche gemischt und sich aus der Ferne genüsslich ihren Todeskampf ausgemalt?
    Reiko tat so, als wäre ihr an den Bemerkungen und der Miene des Fürsten nichts Ungewöhnliches aufgefallen. »Nun, mir hat Harumes Tod sehr Leid getan«, sagte sie. »Euch etwa nicht?«
    »Manche Frauen sind eigenartige Geschöpfe, die mit der Gefahr kokettieren.« Ein düsterer, Unheil verkündender Beiklang schlich sich in die leise, affektierte Stimme des daimyo. »Sie laden den Tod zu sich ein.«
    Reikos Herz setzte einen Schlag lang aus. »Galt das auch für Konkubine Harume?«, fragte sie. Wobei Ihr der Tod gewesen seid, Fürst Miyagi?
    Offenbar war die Fürstin der Ansicht, dass ihr Gemahl zu freimütig redete, denn sie wechselte das Thema. »Bitte, sagt mir, welche Fortschritte macht der sôsakan-sama bei seinen Ermittlungen? Wird er bald jemanden festnehmen?« Ihre Stimme klang ein wenig angespannt. Anders als der daimyo schien die Fürstin sich Sorgen darüber zu machen, welchen Ausgang die Ermittlungen nahmen.
    »Oh, ich weiß nichts über die beruflichen Angelegenheiten meines Mannes«, erwiderte Reiko mit gespielter Unbekümmertheit, denn die Miyagis sollten nicht merken, dass sie von dem Verdacht gegen den Fürsten wusste.
    Weder die Miene noch das Auftreten der Fürstin änderten sich; dennoch spürte Reiko, wie die innere Anspannung von der Frau abfiel. Sie gelangten zu dem Blumenbeet, an dem der daimyo gearbeitet hatte. Er nahm den Eimer auf, in dem sich eine klumpige, rötlich-graue Flüssigkeit befand, die den üblen Gestank verströmte, der über dem gesamten Garten lag. Ein Fliegenschwarm flog summend auf. »Zerriebener Fisch«, erklärte Fürst Miyagi. »Das gibt dem Boden Nährstoffe und lässt die Pflanzen besser wachsen.«
    Reiko drehte sich der Magen um. Während der daimyo eine weitere Schöpfkelle ausgoss, betrachtete er Reikos Körper mit lüsternen, abschätzenden Blicken. »Dem Tod entspringt das Leben. Manche müssen sterben, damit andere überdauern können. Versteht Ihr, meine Liebe?«
    »Ich … äh … glaube schon.« Reiko fragte sich, ob der Fürst tote Tiere meinte – oder Konkubine Harume. Wollte er ihre Ermordung rechtfertigen? »So ist die Natur nun einmal«, fügte Reiko hinzu.
    »Ihr seid so klug, wie Ihr schön seid.« Der Fürst schob sein Gesicht nahe an Reikos heran und lächelte, wobei seine feuchten Lippen faulige Zähne entblößten.
    Voller Abscheu versuchte Reiko, nicht vor dem Ausdruck aufkeimender Lüsternheit in den blutunterlaufenen Augen des daimyo zurückzuweichen. »Ich danke Euch vielmals«, murmelte sie.
    Das Knarren einer Tür erklang, und auf der Veranda waren Schritte zu vernehmen. »Ah«, sagte Fürstin Miyagi, »der Tee ist fertig.«
    »Tee … ja, gern!«, rief Reiko erleichtert.
    Sie nahmen im Pavillon Platz. Die Konkubinen brachten heiße, dampfende Tücher, an denen Reiko und das Fürstenpaar sich die Hände abwischten; dann trugen sie ein erlesenes Mahl auf: Tee, frische Feigen, Bällchen aus pürierten Bohnen, sauer eingelegte Melonen, gekochte Kastanien im Honigmantel und zerlegter Hummer, dessen Teile in Gestalt einer Pfingstrose arrangiert waren. Als Reiko höflich die Speisen probierte, musste sie an die vergiftete Tusche denken. Die Bissen blieben ihr beinahe im Halse stecken, und vor Übelkeit drehte sich ihr der Magen um. In ihr wuchs die Überzeugung, dass Fürst Miyagi der Mörder war. Die Verbrechen gegen Konkubine Harume, bei denen es zu keinem körperlichen Kontakt gekommen war, passten zu den Gewohnheiten des daimyo. Er hatte Harume das Tuschefläschchen geschickt. Der Tee schmeckte Reiko mit einem Mal bitter, und der süße Duft der Speisen war mit dem Verwesungsgeruch von totem Fleisch gesättigt.
    Fürst Miyagi, der neben Reiko Platz genommen hatte, kaute bedächtig, wobei er laut schmatzte. Während er die Blütenblätter der Hummer-Pfingstrose aß, glitten seine Blicke über Reiko hinweg, als

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