Das Geheimnis
hier.«
Der Priester holte ein mit Papier umwickeltes Päckchen aus seiner Umhangtasche. Hirata wickelte es aus und entdeckte in dem Päckchen einen kurzen Dolch mit spitz zulaufender, scharfer Klinge; der Griff war mit dicken schwarzen Baumwollfäden umwickelt. Es war eine billige Waffe, wie sie von gemeinen Bürgern benutzt wurde; sie konnte mit Leichtigkeit unter der Kleidung versteckt werden.
»Ich behalte den Dolch«, sagte Hirata, wickelte ihn wieder ins Papier und steckte ihn unter seine Schärpe, wenngleich er nur wenig Hoffnung hatte, den Eigentümer der Waffe ausfindig machen zu können. »Gab es Zeugen?«
»Alle Leute in der Nähe schauten sich die Akrobaten an. Und Konkubine Harume war ein Stück von ihren Gefährtinnen und den Wachsoldaten entfernt und so sehr verängstigt, dass sie kaum mitbekommen hat, was geschehen war. Aber die Händler an der Straße haben damals einen Mann in einem Umhang und mit Kapuze gesehen, der davongerannt ist.«
Hirata hätte beinahe einen Jubelschrei ausgestoßen. Der Angreifer hatte dieselbe Verkleidung getragen wie der Mörder von Choyei!
»Leider konnte niemand einen genaueren Blick auf den Täter werfen, sodass der Mann entkommen ist«, sagte der Priester.
»Er konnte entkommen?« Hirata war erstaunt. Die Sicherheitskräfte in Asakusa hielten üblicherweise die Ordnung aufrecht und sorgten dafür, dass Unruhestifter in Verwahrung genommen wurden. »Hat jemand den Mann verfolgt?«
»Nein. Der Vorfall ereignete sich am Tag der 46.000«, entgegnete der Priester.
Hirata kratzte sich das Kinn und nickte verständnisvoll. Ein Besuch des Tempels an diesem besonderen Sommertag entsprach 46.000 Besuchen – und Segnungen – an gewöhnlichen Tagen. Kein Wunder also, dass die Straßen und Gassen des Viertels von Pilgern verstopft gewesen waren. Hinzu kamen die zusätzlichen Verkaufsstände, die an diesem Tag aufgestellt wurden und an denen die Pilger besondere chinesische Heilpflanzen kaufen konnten, deren Früchte vor Seuchen schützten. Dies alles hätte eine Verfolgung sehr behindert, während auf der anderen Seite die allgemeine Verwirrung dem Beinahe-Meuchler die Flucht erleichtert hatte. Seufzend blickte Hirata auf die riesige Hauptgebetshalle und die stufigen Dächer der beiden Pagoden. Vor seinem geistigen Auge sah er die anderen Tempel des heiligen Bezirks, und die Gärten, die Friedhöfe, die kleineren Marktplätze; er sah die Straßen von Asakusa vor sich, die durch die umliegenden Reisfelder führten, die Anlegestelle der Fähre, den Fluss … Für einen Verbrecher gab es zahllose Plätze, an denen er sich verstecken konnte, und ebenso viele Fluchtwege. Harumes Angreifer hatte sich Zeit und Ort gut ausgesucht.
»Habt Ihr noch weitere Informationen?«, fragte Hirata ohne große Hoffnung.
»Ich kenne nur die Namen der Personen, die zur Gruppe aus dem Palast gehörten, denn ich habe die Damen und ihre Eskorte am Tempel zusammengerufen und ihre Aussagen aufgenommen, wie es üblich ist.«
Der Priester hielt Hirata das Hauptbuch hin. Ein Name auf der Liste der 53 Begleiter und Begleiterinnen Harumes sprang ihm sofort ins Auge: Konkubine Ichiteru. Hirata wies mit dem Finger auf den Namen seiner einstigen Geliebten und fragte den Priester: »Was hat diese Frau Euch gesagt?«
Der Priester blätterte ein paar Seiten weiter und fand den Eintrag. »Konkubine Ichiteru sagte, sie hätte ein Stück die Straße hinunter in einem Teehaus eine Schale Tee getrunken, als sie Harume plötzlich schreien hörte. Sie behauptete, nichts von dem Angriff gewusst zu haben und auch nicht, wer dafür verantwortlich gewesen sein könnte.«
Aber Ichiteru hatte kein Alibi und war obendrein eine Lügnerin. Hatte sie Harume deshalb zu vergiften versucht, weil der Anschlag mit dem Dolch fehlgeschlagen war? Trotzdem verspürte Hirata nicht den Wunsch, Ichiterus Schuld zu beweisen – nicht einmal, um den Fall dann endlich abschließen zu können und die Befriedigung zu haben, Ichiterus Bestrafung zu erleben. Die Aussicht auf Erfolg und Rache verlor ihren Reiz bei der Vorstellung, den Rest seines Lebens mit dem Wissen verbringen zu müssen, von einer Mörderin überlistet worden zu sein.
»Lasst mich die Liste noch einmal sehen.« Als Hirata auch den Namen von Leutnant Kushida entdeckte, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Auf Kushida passte die vage Beschreibung des Meuchlers. Der Dolch war zwar nicht Kushidas bevorzugte Waffe, aber er hatte sich vielleicht deshalb dafür entschieden, weil ein
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