Das Geheimnis
weibliche Anmut, und ihr grauer Kimono schlotterte um ihren hageren Körper. Dicht vor Reiko blieb sie stehen. »Wir freuen uns sehr, Eure Bekanntschaft zu machen«, sagte sie.
Anfangs hatte Reiko gehofft, die Miyagis würden die Gelegenheit nutzen, sich bei Sano einzuschmeicheln, indem sie mehr Zeit auf den Austausch von Höflichkeiten und persönlichen Bemerkungen verwendeten. Doch auch wenn Reiko sich in dieser Hinsicht getäuscht hatte, ihr Plan schien dennoch aufzugehen. Trotzdem wünschte sie sich, die Sache rasch hinter sich zu bringen und sich so schnell als möglich wieder zu verabschieden. In den funkelnden schwarzen Augen der Fürstin lag ein raubtierhaftes Interesse. Reiko wich zurück … und prallte gegen Fürst Miyagi, der unbemerkt hinter ihr erschienen war und bei ihrem Anblick entzückt die weibischen Lippen spitzte.
»So lieblich wie frühlingshafter Schnee auf Kirschblüten«, bemerkte er und seufzte.
Reiko fühlte sich von dem Kompliment ganz und gar nicht geschmeichelt; vielmehr stieg Furcht in ihr auf, da die Miyagis sie fast zwischen sich einklemmten. Den Fürsten mit seinem weibisch-weichen Gesicht, den schwerlidrigen Augen und der schlaffen Körperhaltung empfand sie als abstoßend. War Miyagi der Vater von Harumes Kind? Wie hatte die schöne Konkubine die Berührungen dieses widerlichen Mannes nur ertragen können? Jetzt fiel Reiko auch der üble Geruch nach Schweiß und Moschus, nach Mann und Weib auf, den der Fürst und die Fürstin verströmten und der sogar den Fäulnisgestank des Gartens überlagerte. Reiko wand sich innerlich vor Abscheu. Nachdem sie zur Frau geworden war, hatte sie sich für erwachsen und erfahren gehalten; nun aber spürte sie Abgründe sexueller Perversionen, die sie erschaudern ließen.
»Wie ist es nun mit unserem Spaziergang durch den Garten?«, fragte sie die Fürstin.
Stets darauf bedacht, Abstand zwischen sich und dem Paar zu wahren, ging Reiko über den Pfad; doch Fürst und Fürstin Miyagi hielten sich so dicht bei ihr, dass die Ärmel ihrer Kleidung Reikos Kimono streiften, während sie durch den Garten schlenderten. Sie spürte den warmen Atem des Fürsten an der Schläfe, während der Körper der Fürstin eine Barriere bildete, die Reiko daran hinderte, sich aus der unmittelbaren Nähe des Paares zu entfernen. War auch Harume in diesem scheußlichen Netz der Miyagis gefangen gewesen? Würden die beiden es wagen, sich ihr, der Gattin eines hohen Tokugawa-Beamten, unsittlich zu nähern?
Reiko wünschte sich, ihre Eskorte wäre bei ihr. Die Furcht ließ sie alle Pläne vergessen, die sie sich für die Vernehmung des Fürsten zurechtgelegt hatte. Verzweifelt suchte sie nach Worten, um ein Gespräch zu beginnen, das ihr vielleicht doch noch die gewünschten Informationen bringen würde.
»Ihr habt einen wunderschönen Garten«, sagte sie. »Er ist so …« Während sie nach dem passenden Wort suchte, bemerkte sie eine weitere Statue: ein doppelköpfiger geflügelter Dämon, der den Körper eines kleinen Tieres in den Klauen hielt. Reiko erschauderte. »Er ist so geschmackvoll«, vollendete sie den Satz.
»Aber ich könnte mir vorstellen«, sagte Fürstin Miyagi, »dass der Garten des sôsakan noch viel schöner ist, nicht wahr?«
Wenngleich Reiko aufrichtiges Interesse in der unverfänglichen Frage zu hören glaubte, vermutete sie, dass die Fürstin Sano nur deshalb erwähnte, weil sie herausfinden wollte, wie viel Reiko über den Mordfall wusste. Reiko erkannte ihre Chance. »Leider hat mein Gemahl nur wenig Gelegenheit, sich mit der Natur zu beschäftigen. Gerade jetzt wird seine Zeit von sehr unangenehmen Aufgaben in Anspruch genommen. Ich nehme an, Ihr habt von dem Vorfall gehört, durch den unsere Hochzeitsfeierlichkeiten unterbrochen wurden?«
»Allerdings. Eine schreckliche Sache«, bestätigte Fürstin Miyagi.
»Oh, ja.« Der daimyo seufzte. »Konkubine Harume. So viel Schönheit – für immer zerstört. Sie muss schrecklich gelitten haben.« Der Fürst lächelte, und voller Ekel sah Reiko, dass sich Lüsternheit in seiner Miene spiegelte. »Das Messer, das ihr weiches Fleisch zerschnitt … das hervorquellende Blut … die vergiftete Tusche, die sich in ihrem jungen Körper ausbreitete … die Zuckungen, der Todeskampf …« Die Augen des Fürsten funkelten. »Schmerz ist die höchste aller Empfindungen, und Furcht das nachdrücklichste aller Gefühle. Und im Tod liegt einzigartige Schönheit.«
Eine Woge eisigen Entsetzens erfasste
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