Das Geheimnis
dem sie erkrankt ist, nicht wahr?«, sagte Hirata. »Sie hat Euch gefürchtet und ihren Vater gebeten, sie vor Euch zu retten.«
»Und wenn es so war?« In Ichiterus heiserer Stimme lag Gleichgültigkeit. »Ihr habt keinen Beweis.«
Sie hatte Recht. Hirata hatte die letzten drei Tage damit verbracht, Nachforschungen über diesen ersten Giftanschlag anzustellen und hatte die anderen Bewohner des Palasts rasch als Täter ausschließen können. Er wusste, das Ichiteru schuldig war, fand aber keinen Beweis gegen sie. Und da sie offenbar nicht die Absicht hatte, ein Geständnis abzulegen, konnte er nichts unternehmen. Ichiteru hatte ihn nicht nur zum Narren gehalten; sie kam trotz ihres Mordversuchs ungestraft davon, was Hirata mit Zorn und einem Gefühl der Demütigung erfüllte.
»Ich weiß, dass Ihr es wart«, sagte er. »Da Ihr Harume nicht ermordet habt, gibt es keine andere Erklärung für Eure … Zutraulichkeiten mir gegenüber. Ihr hattet Angst, der sôsakan-sama könnte entdecken, dass Ihr für den ersten Giftanschlag verantwortlich wart; deshalb habt Ihr versucht, Fürstin Keisho-in die Schuld an Harumes Tod zuzuschieben. Und zu diesem Zweck habt Ihr mich benutzt.«
Innerlich vor Zorn bebend fuhr Hirata fort: »Ich wette, Ihr seid mit dem Ausgang der Dinge ziemlich zufrieden; aber merkt Euch eins: Ich weiß, dass Ihr zwar keinen Mord begangen habt, aber keinen Augenblick gezaudert hättet, einen Menschen zu töten. Und ich warne Euch. Wenn Ihr noch einmal für Schwierigkeiten sorgt, treibe ich Euch in die Enge, und dann werdet Ihr die Strafe bekommen, die Ihr verdient.«
»Strafe?« Konkubine Ichiteru lachte verächtlich. »Was könntet Ihr mir antun, das schlimmer wäre als die Zukunft, die vor mir liegt?«
Sie drehte sich um, und der Schleier verrutschte. Schockiert starrte Hirata auf das Bild, das sich ihm bot. Ichiteru trug keine Schminke. Ihre Augen waren rot und vom Weinen verquollen; ihre blassen Lippen waren geschwollen. Ihre Haut war bleich und mit roten Flecken übersät, und ihr Haar war zu einem unordentlichen Knoten ohne jeden Haarschmuck gebunden. In diesem Gesicht erinnerte nichts an die Frau, deren Verführungskünsten Hirata erlegen war.
»Was ist mit Euch geschehen?«, fragte er.
»Morgen treffen 15 neue Konkubinen im Inneren Schloss ein. Man hat mir soeben mitgeteilt, dass ich eine der Frauen bin, die aus den Diensten des Shôguns entlassen werden, um Platz für die Neuen zu schaffen – drei Monate vor dem offiziellen Termin meines Ausscheidens als Konkubine!« Ichiterus Stimme bebte vor Wut. »Nun habe ich keine Gelegenheit mehr, dem Shôgun einen Erben zu schenken und seine Gemahlin zu werden. Wenn ich nach Kyôto zurückkehre, habe ich nichts vorzuweisen, das mich für 13 Jahre Erniedrigung und Schmerz entschädigt. Ich werde den Rest meines Lebens als verarmte alte Jungfer verbringen – als verachtetes Symbol für die enttäuschten Hoffnungen der kaiserlichen Familie, ihren alten Glanz und Ruhm wiederzuerlangen.«
Ichiteru bedachte Hirata mit einem spöttischen Grinsen und fügte hinzu: »Ich bitte um Vergebung für das, was ich mit Euch getan habe, aber Ihr werdet darüber hinwegkommen. Und wann immer Ihr an mich denkt, könnt Ihr lachen!«
Hiratas Wunsch nach Rache verflog. Ichiterus Anblick und ihr ungekünsteltes Auftreten hatten bereits alle Begierde ihn ihm sterben lassen, und ihre Bitterkeit stieß ihn ab. Endlich konnte er Ichiteru vergeben, ja, sogar Mitleid mit ihr empfinden. Ihr Schicksal war tatsächlich die schlimmste Strafe. Im Vergleich dazu erschienen Hirata die eigenen Sorgen unbedeutend.
»Es tut mir Leid«, sagte er.
Er hätte ihr alles Gute gewünscht, oder höfliche Worte des Trostes zu ihr gesagt, doch Ichiteru wandte sich von ihm ab. »Lasst mich allein.«
»Lebt wohl«, sagte Hirata.
Während er zurück durch den Garten ging, kam er sich Jahre älter vor als zu Beginn der Nachforschungen. Dieser Fall und die damit verbundenen Erfahrungen hatte ihn weiser und reifer gemacht. Nie mehr würde er zulassen, dass eine Mordverdächtige sein Handeln und Denken beherrschte. Doch der plötzliche Verlust der innigen Gefühle für Konkubine Ichiteru hinterließ auch eine seltsame Leere in Hirata. Er hätte sich noch um andere Dinge kümmern müssen, bevor er an Reikos und Sanos Hochzeitsmahl teilnahm, das an diesem Abend stattfinden sollte, doch er fand nicht die Ruhe zum Arbeiten. Von unbestimmten Sehnsüchten erfüllt betrat Hirata das Waldstück auf dem
Weitere Kostenlose Bücher