Das Geheimnis
Palastgelände; er hoffte, ein einsamer Spaziergang würde dafür sorgen, dass er wieder einen klaren Kopf bekam.
Er hatte kaum ein paar Schritte auf dem Pfad gemacht, als eine zögerliche Stimme hinter ihm sagte: »Hirata-san.«
Er drehte sich um und sah Midori auf sich zukommen. »Midori … Ich grüße Euch«, sagte er.
»Ich habe mir die Freiheit genommen, Euch durch den Kräutergarten zu folgen, denn ich dachte … hoffte … dass Euch meine Gesellschaft willkommen ist.« Midori errötete und spielte verlegen mit einer Haarsträhne. »Natürlich gehe ich, wenn Ihr allein sein wollt.«
»Nein, nein, ich bin froh, dass Ihr gekommen seid«, sagte Hirata aufrichtig.
Sie spazierten zwischen Birken hindurch, die goldene Blätter auf sie hinabschweben ließen. Zum ersten Mal, seit Midori erschienen war, schaute Hirata sie bewusst an und sah die Schönheit in ihrem klaren, offenen Blick und den Liebreiz in ihrem unschuldigen Auftreten. Seine lüsterne Besessenheit, was Konkubine Ichiteru betraf, erschien ihm plötzlich als etwas Schmutziges, Verderbtes, das ihm die Augen vor dem wahren Schönen und Reinen verschlossen hatte, wie Midori es verkörperte. Als Hirata an die Gespräche dachte, die er mit dem Mädchen geführt hatte, fiel ihm plötzlich etwas ein.
»Ihr habt gewusst, dass Konkubine Ichiteru letzten Sommer versucht hat, Harume zu ermorden, nicht wahr?«, fragte er. »Und Ihr habt versucht, mich zu warnen, dass sie mich benutzen wollte, um dafür zu sorgen, dass man sie nicht wegen des Mordes in Haft nahm.«
Midori schaute zu Boden und verbarg ihr Gesicht hinter dem schimmernden Vorhang ihres Haars. »Ich war nicht sicher, aber ich hatte den Verdacht … Und ich wollte nicht, dass sie Euch wehtut.«
»Warum habt Ihr mir das nicht gesagt? Ich weiß, dass ich Euch wegen Ichiteru kaum beachtet habe, aber Ihr hättet Euch nachdrücklicher bemerkbar machen, mir einen Brief schreiben oder es dem sôsakan-sama sagen können.«
»Meine Angst war zu groß«, erwiderte Midori unglücklich. »Ihr habt Konkubine Ichiteru bewundert. Hätte ich etwas Schlechtes über sie gesagt, hättet Ihr mich für eine Lügnerin gehalten. Ihr hättet mich gehasst.«
Es verwunderte Hirata, dass ein Mädchen aus einer so vornehmen Familie sich um ihn sorgte und darauf bedacht war, dass er nicht schlecht über sie dachte. Erst jetzt wurde ihm klar, dass Midori ihn schon die ganze Zeit über gemocht hatte. Seine bescheidene Herkunft machte ihr nichts aus. Und Midoris aufrichtige Zuneigung befreite Hirata endlich aus dem Gefängnis der eigenen Unsicherheit. Mit einem Mal spielte es keine Rolle mehr, dass er keine adeligen Ahnen und keine hohe Bildung besaß. In seinem bisherigen Leben hatte er stets versucht, der Pflicht und der Ehre zu dienen, und das genügte Midori. Am liebsten hätte Hirata seine wilde Freude hinausgeschrien. Wie seltsam, das ausgerechnet seine schlimmste Demütigung ihm das Geschenk der Einsicht gebracht hatte, was Midori, Ichiteru und ihn selbst betraf.
Er berührte Midori an der Schulter und drehte behutsam ihr Gesicht zu ihm. »Ich bewundere Konkubine Ichiteru nicht mehr«, sagte er. »Und Euch könnte ich niemals hassen.«
Midori betrachtete ihn mit großen, ernsten Augen, in denen aufkeimende Hoffnung zu sehen war. Sie lächelte mit bebenden Lippen, und einen Augenblick lang blitzten ihre weißen Zähne wie Perlen, auf die strahlendes Sonnenlicht fällt.
»Was werdet Ihr tun, nachdem Ichiteru den Palast verlassen hat?«, fragte Hirata hoffnungsvoll.
»Oh, ich werde als Hofdame für eine der anderen Konkubinen tätig sein«, erwiderte Midori; dann fügte sie hinzu: »Ich soll so lange im Palast bleiben, bis ich heirate.«
Vielleicht auch länger, ging es Hirata durch den Kopf, sofern auch ich hier bleibe und das Schicksal uns zusammenführt. Immer schön langsam!, ermahnte er sich dann. Vorerst war er zufrieden, dass er und Midori noch längere Zeit auf dem Palastgelände wohnen blieben; alles Weitere würde die Zukunft zeigen.
»Nun«, sagte Hirata lächelnd. »Ich bin froh, das zu hören.«
Und Midori bedachte ihn mit einem strahlenden Lächeln, während sie weiter den Pfad hinunterschlenderten, wobei ihre Ärmel sich berührten.
»Ich habe die Ehre und den Vorzug, das Hochzeitsmahl anlässlich der Heirat von sôsakan Sano Ichirō und der ehrenwerten Ueda Reiko zu eröffnen«, verkündete Noguchi Motoori.
Der Mittelsmann und seine Gemahlin knieten auf dem Podium in der großen Empfangshalle von
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