Das Geheimnis
Yanagisawas Bitte um eine neuerliche Vergrößerung seines Machtbereichs zu erfüllen. Sanos Ansehen bei Hofe war gestiegen – wie auch das Ansehen eines anderen Rivalen, dessen Einfluss Yanagisawa in der Vergangenheit mit Leichtigkeit hatte zurückdrängen können. Und nun, da der Shôgun von der erbitterten Feindschaft seiner Ratgeber wusste, wagte Yanagisawa es nicht mehr, jene Methode anzuwenden, die er in der Vergangenheit öfters benutzt hatte, um unliebsame Konkurrenten loszuwerden: den Meuchelmord. Die Gefahr, dass alles aufflog und er, der mächtige Kammerherr, auf dem Hinrichtungsplatz endete, war zu groß. Dennoch … irgendwie musste Yanagisawa seinen Gegner beseitigen.
»Ist es denn nicht zu begrüßen, ehrenwerter Kammerherr, wenn der sôsakan-sama Japan vor Bestechung und Verrat beschützt?«, fragte Hamada Kazuo, einer der Fünf Staatsratsmitglieder und Parteigänger Sanos – ein Mann, dessen Verehrung für den sôsakan zunehmend größer wurde. »Sollten wir ihn bei diesem Bestreben nicht unterstützen?«
Zurückhaltendes, jedoch zustimmendes Gemurmel kam von den anderen Staatsratsmitgliedern; nur Makino, Yanagisawas wichtigster Verbündeter, hüllte sich in Schweigen. Mit einer Mischung aus Zorn und Verwunderung ließ Yanagisawa den Blick in die Runde schweifen. Vor noch gar nicht langer Zeit hatten die Fünf Ältesten seine Erklärungen widerspruchslos hingenommen. Nun aber – und daran war nur Sano schuld! – verlor er die Kontrolle über diese Männer, die den Shôgun berieten und die Richtung der Politik im Land bestimmten. Aber Sano unterstützen? Niemals! Niemand konnte Yanagisawa auf seinem Weg zur absoluten Macht aufhalten.
»Wie könnt Ihr es wagen, mir zu widersprechen?«, fragte er mit scharfer Stimme, ging schneller und zwang die fünf alten Männer, ebenfalls ihre Schritte zu beschleunigen, wobei sie hastig Entschuldigungen hervorsprudelten. »Beeilt Euch!«
Oh, wie sehr er ihren Gehorsam genoss – und wie sehr er die kleinste Schwächung seiner Machtposition fürchtete, eine Furcht, die die Albträume seiner Vergangenheit wieder heraufzubeschwören drohte …
Yanagisawas Vater war Kammerherr bei Fürst Takei gewesen, dem daimyo der Provinz Arima; seine Mutter stammte aus einer reichen Kaufmannsfamilie, die versucht hatte, im Rang aufzusteigen, indem sie eine verwandtschaftliche Verbindung mit einem Samurai-Klan eingegangen war. Beide Eltern hatten die Kinder als Mittel zum Zweck betrachtet, diesen sozialen Aufstieg zu erreichen. Keine Kosten und Mühen wurden gescheut, den Kindern eine umfassende Erziehung und Ausbildung zukommen zu lassen, doch alles diente nur dem Erreichen eines Zieles: eine Stellung am Hof des Shôguns zu erlangen.
In Yanagisawas frühesten Erinnerungen sah er sich selbst und seinen Bruder Yoshihiro im schummrigen Audienzzimmer der väterlichen Villa knien. Yanagisawa war sechs, Yoshihiro zwölf Jahre alt. Regen prasselte auf das Ziegeldach; es schien, als hätte die Sonne damals nie vom blauen Himmel leuchten wollen. Der Vater der Jungen saß auf dem Podium: eine große, düstere, schwarz gewandete Gestalt.
»Yoshihiro, dein Lehrer sagte mir, du würdest in sämtlichen geistigen Fächern versagen.« In der Stimme des Vaters schwang Verachtung mit. Dann wandte er sich Yanagisawa zu. »Und was dich betrifft, so sagte mir der Waffenmeister, du wärst gestern in einem Übungskampf unterlegen.«
Er erwähnte nicht, dass Yanagisawa fast so gut lesen und schreiben konnte wie ein Erwachsener, oder dass Yoshihiro der beste Schwertkämpfer seiner Altersgruppe in der Stadt war. »Wie willst du deiner Familie jemals Ehre machen, wenn du dich als Schwächling erweist?« Das Gesicht des Vaters lief vor Zorn rot an. »Ihr beide seid nutzlose Narren! Ihr seid es nicht wert, meine Söhne zu sein!«
Er packte den Stock, der stets auf dem Podium lag, und schlug damit auf Yanagisawa und Yoshihiro ein. Die beiden Jungen krümmten sich unter den schmerzhaften Hieben und kämpften gegen die Tränen an, die den Zorn des Vaters nur noch mehr entfacht hätten. In einer angrenzenden Kammer bestrafte die Mutter derweil die Schwester der Jungen, Kiyoko, die leisen Widerspruch gewagt hatte, weil sie mit einem hochrangigen Beamten verheiratet werden sollte. »Du dummes, ungehorsames Mädchen!«, schimpfte die Mutter.
Die Geräusche von Ohrfeigen, Stockhieben und das Weinen Kiyokos erfüllten das Haus. Was die Kinder auch erreichten, wie sehr sie sich auch mühten – nie waren
Weitere Kostenlose Bücher