Das Geheimnis
schloss sich, wobei das Tier schrille, gequälte Laute ausstieß. Dann strömte Blut aus dem Maul. Sano erkannte, dass es sich um die gleichen Symptome handelte, wie der Arzt im Palast sie bei Konkubine Harume beschrieben hatte: »Krämpfe, Erbrechen und Atemnot.«
Die Maus stieß noch zwei, drei schrille Laute aus; dann durchlief ein letzter Krampf ihren Körper, und sie war tot. Sano und Dr. Ito neigten die Köpfe aus Achtung vor dem Tier, das sein Leben gegeben hatte, um eine verborgene Wahrheit aufzudecken. Dann schauten die Männer in den anderen Käfigen nach.
»Auch diese Maus ist vergiftet«, sagte Dr. Ito mit leisem Lächeln und zeigte auf das Tier, das auf schwankenden Beinen die nun leere Sakeschale umrundete. »Allerdings vom Alkohol. Sobald sie nüchtern ist, geht es ihr wieder gut.« Die Maus mit dem rasierten Rücken und ihr Artgenosse mit dem winzigen Messereinschnitt an der Bauchseite huschten munter in ihren Käfigen herum. »Auch hier gibt es keine erkennbaren Auswirkungen.« Dr. Ito zog die Tücher von den letzten beiden Käfigen. Zwei stechend riechende Rauchwolken stiegen empor, und zwei benommene, aber lebendige Mäuse waren zu sehen, die über die Käfigböden taumelten. »Auch hier ist den Tieren nichts geschehen. Nur die Tusche enthielt Gift.«
»Könnte es Selbstmord gewesen sein?«, fragte Sano, der noch immer auf eine einfache Erklärung für den unnatürlichen Tod von Konkubine Harume hoffte.
»Möglich, aber ich kann es mir nicht vorstellen. Warum hätte die Frau eine so schmerzhafte Methode wählen sollen, wenn sie den Tod gesucht hat? Warum hat sie sich nicht erhängt oder ist ins Wasser gegangen – die häufigsten Todesarten weiblicher Selbstmörder? Und weshalb hätte sie sich die Mühe machen sollen, das Gift in die Tusche zu mischen? Warum hat sie es nicht einfach geschluckt, zumal es dann schneller gewirkt hätte?«
»Also wurde Konkubine Harume ermordet.« Sanos Genugtuung, seinen Verdacht bestätigt zu sehen, wurde von Ernüchterung getrübt. Er musste dem Shôgun, dem obersten Arzt des Palasts und den Hofbeamten die Nachricht überbringen, welche sich daraufhin in ganz Edo verbreiten würde. Um verheerende Konsequenzen zu vermeiden, musste Sano herausfinden, wer das Gift in die Tusche gemischt hatte – und das so schnell wie möglich. »Welche Substanz tötet so rasch und auf so schreckliche Weise?«, fragte er.
»Als ich noch Arzt am kaiserlichen Hof zu Kyôto gewesen bin, habe ich eine Reihe von Giften studiert«, erwiderte Dr. Ito. »Die Vergiftungserscheinungen im vorliegenden Fall ähneln denen, die vom bish hervorgerufen werden, dem Extrakt einer Pflanze, die im Himalaya beheimatet ist. Bish wurde in Indien und China fast 2000 Jahre lang als Pfeilgift verwendet, sowohl auf der Jagd als auch im Krieg. Wie Ihr gesehen habt, wirkt bereits eine winzige Menge tödlich. Es gab Fälle, in denen Menschen an dem Gift gestorben sind, weil sie die Wurzeln der Pflanze irrtümlich für Meerrettich gehalten haben. In Japan ist diese Giftpflanze jedoch äußerst selten. Ich habe noch nie von einem Fall gehört, dass hierzulande jemand daran gestorben wäre.«
»Woher könnte dieses Gift dann gekommen sein?«, wollte Sano wissen. »Muss ich nach einem Mörder suchen, der besonderes Wissen über Kräuter besitzt? Zum Beispiel nach einem Arzt, einem Priester oder einem Zauberer?«
»Schon möglich. Aber es gibt auch reisende Drogen- und Kräuterhändler, die Gifte ungesetzlich an jeden verkaufen, der sie bezahlen kann.« Dr. Ito wies Mura an, die Mäuse aus dem Untersuchungsraum zu bringen. Dann legte er nachdenklich die Stirn in Falten. »Diese Händler bieten üblicherweise normale Gifte an – Arsen beispielsweise, das mit Zucker vermischt über Kuchen gestreut werden kann, oder Antimon, welches meist Tee oder Wein beigemischt wird. Oder auch Fugu, das Gift des Kugelfisches.
Aber es gibt einen Mann, der unter den Ärzten und Gelehrten beinahe zur Legende geworden ist. Einen fahrenden Händler, der durch ganz Japan zieht und in den entlegensten Winkeln des Landes Pflanzenproben sammelt – vor allem aber in den Hafenstädten, in denen die Einwohner medizinisches Wissen besitzen, das sie zu einer Zeit von Ausländern übernommen haben, als Japan noch dem Handel mit Ländern in der ganzen Welt offen stand. Der Name dieses Mannes ist Choyei. Wenn er durch Kyôto kam, habe ich stets Heilpflanzen bei ihm gekauft. Er wusste mehr über Gifte und Drogen als jeder andere Mensch,
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