Das Geheimnis
dem ich je begegnet bin. Choyei handelte vor allem mit Heilkräutern, verkaufte aber auch Gifte an Gelehrte, die diese Stoffe studieren wollten – so wie ich. Gerüchte besagten, dass Choyeis Gifte und Drogen den Tod vieler hoher bakufa- Beamter bewirkt haben.«
»Könnte es sein, dass dieser Mann sich zurzeit in Edo aufhält?«, fragte Sano. Falls dieser Choyei ihm den Namen eines Kunden nennen könnte, der in letzter Zeit bish bei ihm gekauft hatte, könnte der Mord an Konkubine Harume vielleicht sehr schnell aufgeklärt werden.
»Ich habe Choyei seit Jahren nicht gesehen und auch nichts mehr von ihm gehört. Wenn er noch lebt, müsste er ungefähr in meinem Alter sein. Er war ein seltsamer, in sich gekehrter Mann, der durch die Lande zog, wann immer es ihm gefiel. Er tarnte sich als Landstreicher und hielt sich an keinen bestimmten Reiseplan. Als ich das letzte Mal von ihm gehört habe, war er angeblich auf der Flucht vor dem Gesetz.«
Wenngleich diese Worte Sano entmutigten, gab er die Hoffnung doch nicht auf. »Wenn dieser Choyei hier ist, finde ich ihn. Außerdem gibt es noch eine weitere Fährte, die zum Mörder führen könnte.« Sano hielt das Tuschefläschchen in die Höhe. »Ich muss herausfinden, wie und wo Konkubine Harume sich dieses Fläschchen beschafft hat, und wer der Tusche das Gift beigemischt haben könnte.«
»Vielleicht der Liebhaber, für den sie sich tätowiert hat«, schlug Dr. Ito vor. »Schade, dass Harume nicht auch seinen Namen in ihr Fleisch geschnitten hat, wie Kurtisanen es häufig tun. Aber offenbar wollte sie geheim halten, wer der Mann ist, falls es sich um jemand anderen als den Shôgun handelt.«
Sano nickte. »So ist es. Denn eine Konkubine kann davongejagt, ja sogar hingerichtet werden, wenn sie ihrem Herrn untreu ist. Und die Körperstelle, die Konkubine Harume sich für ihre Tätowierung ausgesucht hat, deutet darauf hin, dass sie diese Sache in der Tat geheim halten wollte.« Sano packte seine Beweisstücke wieder ein. »Ich werde ein Gespräch mit der Mutter des Shôguns und der obersten Verwalterin der Frauengemächer führen. Vielleicht können sie mir Auskunft darüber geben, ob jemand mit Konkubine Harume verfeindet war und ihren Tod gewünscht haben könnte.«
Dr. Ito begleitete Sano nach draußen auf den Hof, über den sich bereits die Schatten des sterbenden Tages senkten. »Danke für Eure Hilfe, Ito-san, und für das Geschenk«, sagte Sano. »Sobald Harumes Leichnam hierher gebracht worden ist, komme ich wieder zu Euch, um bei der Untersuchung dabei zu sein.«
Nachdem Sano die Beweisstücke in seiner Satteltasche verstaut hatte, schwang er sich auf sein Pferd. Einerseits hatte er es eilig, die Ermittlungen weiterzuführen, andererseits kehrte er nur ungern in den Palast zu Edo zurück. Würde er den Mörder aufspüren, bevor der Schrecken, den dieser Unbekannte verbreitete, die gefährlichen persönlichen und politischen Spannungen im Palast weiter verschärfte? Konnte Sano verhindern, selbst ein Opfer der Ränke und Intrigen zu werden?
5.
D
ie herbstliche Dämmerung senkte sich über den Palast von Edo. Wie auf einer Zeichnung aus Rauch bildeten Wolken rote Wirbel am blassgoldenen Himmel im Westen. Über den Toren und in den Fenstern der Wohnhäuser, der Geschäfte und der prächtigen Villen, welche die daimyo in der Hauptstadt unterhielten, brannten bereits die Laternen. Ein Dreiviertelmond stieg zwischen den ersten Sternen auf, die sich am Himmel zeigten, und Leuchtfeuer kündeten von der herannahenden Nacht und leiteten eine Jagdgruppe, die durch das Waldstück auf dem Palastgelände streifte. Lastenträger, die Kisten mit Vorräten schleppten, folgten Dienern, die Pferde an Zügeln und bellende Hunde an Leinen führten. Ein Stück voraus bewegten sich die mit Bogen bewaffneten Jäger zu Fuß zwischen den Bäumen, in deren herbstbuntem Blätterwerk Vögel ihre Abendlieder sangen.
»Ist es nicht ein bisschen spät für einen Jagdausflug, ehrenwerter Kammerherr Yanagisawa?« Makino Narisada, der greise Vorsitzende des Staatsrats, beeilte sich, keuchend und schnaufend zu seinem Vorgesetzten aufzuschließen, gefolgt von seinen vier Amtskollegen. »Die Luft ist bereits unangenehm kalt. Außerdem wird es bald zu dunkel sein, als dass man noch irgendetwas sehen könnte. Sollten wir nicht lieber zum Palast zurückkehren, um unser Treffen in aller Behaglichkeit weiterzuführen?«
»Unsinn«, widersprach Yanagisawa schroff, spannte seinen Bogen und spähte
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