Das Geheimnis
über einen aufgelegten Pfeil hinweg. »Die Nacht ist die beste Zeit für die Jagd. Ich kann meine Beute zwar nicht deutlich sehen, aber sie mich auch nicht. In der Dunkelheit zu jagen, ist eine viel größere Herausforderung als die Jagd bei Tag, wenn jeder Narr ein Wild erlegen kann.«
Hoch gewachsen, schlank, kräftig – und mit 31 Jah ren mindestens 15 Jahre jünger als jeder seiner Begleiter –, bewegte Kammerherr Yanagisawa sich mit raschen Schritten durch den Wald. Wie stets schärfte die mystische Energie der Nacht seine Sinne. Sein Seh- und Hörvermögen gewann so sehr an Kraft und Klarheit, dass er die flüchtigste Bewegung wahrnehmen und das leiseste Geräusch hören konnte. In den nach Fichten duftenden Schatten des Waldstücks vernahm der Kammerherr den leisen, dumpfen Flügelschlag eines Vogels, der sich auf dem Ast eines Baumes in der Nähe niederließ. Er erstarrte, hob Pfeil und Bogen und zielte.
Die Jagd schürte Yanagisawas Blutgier. Gab es eine schönere Beschäftigung, eine bessere Umgebung für Staatsgeschäfte? Der Pfeil surrte von der Sehne und schlug mit dumpfem Knall in den Baumstamm ein. Unverletzt flog der Vogel davon. Sein erschrecktes Kreischen scheuchte seine kleineren Artgenossen in den Bäumen der näheren Umgebung auf.
Dessen ungeachtet rief Makino, der Vorsitzende des Staatsrats: »Ein großartiger Schuss!« Seine vier Amtskollegen schlossen sich pflichtschuldigst dem Lob an.
Kammerherr Yanagisawa lächelte. Es interessierte ihn nicht, dass er sein Ziel verfehlt hatte. Er hatte es auf eine unvergleichlich größere und wertvollere Beute abgesehen. »Also, was steht als Nächstes auf Eurer Tagesordnung, Makino?«
»Der Bericht des sôsakan-sama über seine erfolgreichen Ermittlungen im Mordfall an dem Holländer in Nagasaki und die Festnahme der Mitglieder des dortigen Schmugglerrings.«
»Ah, ja.« Wut kochte in Yanagisawa empor wie ein Geysir aus Säure und erweckte dabei den noch tiefer sitzenden Zorn zum Leben, der in ihm wütete, seit Sano Ichirō in den Palast zu Edo übergesiedelt war. Bislang war es Yanagisawa nicht gelungen, seinen Todfeind zu vernichten – den Mann, der zwischen ihm und seinem Herzenswunsch stand, die höchste Macht im Lande zu erlangen.
»Der Shôgun war sehr beeindruckt vom Triumph des sôsakan-sama, ehrenwerter Kammerherr«, sagte Makino unterwürfig, doch mit einem Hauch von Genugtuung. »Seid Ihr nicht auch dieser Meinung?«
Mit bedächtigen Bewegungen zog Yanagisawa einen neuen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn auf die Sehne und ging weiter. »Was Sano Ichirō betrifft, muss etwas geschehen«, sagte er.
Seit seiner Jugend war Kammerherr Yanagisawa der Geliebte des Shôguns und hatte seinen Einfluss auf Tokugawa Tsunayoshi dazu benutzt, seine herausragende Stellung als zweitmächtigster Mann im Lande zu festigen; der Schwächen des Shôguns wegen war der Kammerherr im Grunde der wahre Herrscher Japans. Yanagisawas administrative Fähigkeiten hielten die Maschinerie des bakufu in Gang, während der Shôgun seinen Leidenschaften frönte: der Kunst, der Religion und hübschen Knaben. Im Laufe der Jahre hatte Yanagisawa ein riesiges Vermögen angehäuft, indem er Gelder von den Tributzahlungen der daimyo an den Tokugawa-Klan abzweigte, Steuern von den Kaufleuten erhob und »Gebühren« von all jenen forderte, die um eine Audienz beim Shôgun ersuchten. Jedermann beugte sich Yanagisawas Autorität. Doch all sein Reichtum, all seine Macht genügten ihm nicht. Vor kurzem hatte er sich einen Plan zurechtgelegt, wie er den Rang eines daimyo erlangen und zum offiziellen Statthalter einer Provinz werden konnte. Vier Monate zuvor hatte er sôsakan Sano in einer gefährlichen Mission nach Nagasaki geschickt und darauf gehofft, seinen größten Feind endlich zu vernichten und seine Stellung als Günstling des Shôguns für alle Zeiten sichern zu können.
Doch sein Plan war nicht aufgegangen. Sano hatte die Mission in Nagasaki überlebt, und auch Yanagisawas jüngste Versuche, seinen Widersacher in Misskredit zu bringen, waren gescheitert. Stattdessen war Sano als Held nach Edo zurückgekehrt. Am heutigen Tag hatte er überdies die Tochter von Magistrat Ueda geheiratet, welcher größeren Einfluss auf den Shôgun besaß, als Yanagisawa lieb sein konnte. Und Tokugawa Tsunayoshi war noch immer verstimmt darüber, dass sein Kammerherr den sôsakan nach Nagasaki geschickt hatte, was wohl auch der Grund dafür war, dass der Shôgun sich bislang weigerte,
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