Das Geheimnis
Mordfall.«
Plötzlich kam Yanagisawa ein großartiger Einfall. Er konnte den Mord an Kurtisane Harume dazu benutzen, Sano endlich zu vernichten – und seinen anderen Rivalen gleich mit. Am liebsten hätte der Kammerherr laut gejubelt, doch er durfte sich nicht das Geringste anmerken lassen: Der Plan erforderte äußerste Diskretion. Außerdem brauchte der Kammerherr nicht die fünf Greise als Komplizen, die ihn gerade begleiteten, sondern andere Männer.
Yanagisawa blieb auf einer Lichtung stehen und wandte sich an die Ältesten: »Ich brauche Euch nicht mehr. Ich jage alleine weiter.« Erleichtert machten die alten Männer sich auf den Heimweg; nur Yanagisawas Diener blieben bei ihrem Herrn. »Ich will eine Rast einlegen und etwas essen. Baut mir eine Unterkunft«, befahl der Kammerherr.
Die Diener nahmen Päckchen und Bündel mit Vorräten, Werkzeug und Zeltmaterial von ihren Rücken und errichteten eine Art Einfriedung, wie sie von Generälen als Hauptquartier auf dem Schlachtfeld benutzt wurde. Bald bedeckten weiße Seidenvorhänge die Wände eines großen, quadratischen, nach oben offenen Holzgerüsts. Im Innern wurden Futons ausgelegt, Holzkohlebecken und Laternen entzündet und Reiswein sowie Speisen aufgetragen. Während draußen Posten aufzogen, streckte Yanagisawa sich behaglich auf dem Futon aus. Natürlich brauchte er diese behelfsmäßige Unterkunft nicht – schließlich stand ihm der ganze Palast zur Verfügung –, doch es gefiel ihm zu beobachten, wie Menschen schufteten, um es ihm behaglich zu machen, und er genoss die Aura der Heimlichkeit, die ein nächtliches Rendezvous in freier Natur besaß. Außerdem – war er nicht tatsächlich wie ein General, der seine Truppen zum Angriff formierte?
»Hol Shichisaburô her«, befahl der Kammerherr einem Diener, der daraufhin gehorsam davoneilte.
Während Yanagisawa wartete, steigerte ein wohliger, lüsterner Schauder seine Erregung. Shichisaburô, der führende Schauspieler der no-Theatertruppe der Tokugawas, war der derzeitige Geliebte des Kammerherrn. Shichisaburô war in den altehrwürdigen Traditionen und Praktiken der Liebe zwischen Männern geschult, welche insbesondere unter Samurai verbreitet war, doch Yanagisawa hatte noch andere Verwendungen für den Jungen …
Kurz darauf teilten sich die Seidenvorhänge, und Shichisaburô trat ein. Er war 14, klein für sein Alter und trug das Haar im Stil eines Samurai-Jungen: Der Scheitel war bis auf eine lange, nach hinten gebundene Stirnlocke rasiert. Sein roter und goldener Theaterumhang aus Brokat bedeckte einen schlanken Körper, der voller Anmut und biegsam wie eine Weide war. Shichisaburô kniete nieder und verneigte sich.
»Ich erwarte Eure Befehle, ehrenwerter Kammerherr«, sagte er.
Yanagisawa setzte sich auf. Sein Herz schlug schneller. »Steh auf«, wies er den Jungen an, »und komm näher.« Er konnte seine Begierde kaum mehr zügeln. »Setz dich neben mich.«
Der Junge gehorchte, und Yanagisawa starrte ihm Besitz ergreifend ins Gesicht, bewunderte die fein geschnittenen Züge, die langen Wimpern, die hohen Wangenknochen, die glatte, kindliche Haut und die rosigen Lippen, die ihn an köstliche frische Früchte erinnerten. In Shichisaburôs großen, ausdrucksvollen Augen, die im Licht der Laternen strahlten, spiegelte sich der Wunsch, dem Kammerherrn zu Gefallen zu sein, was Yanagisawa ein Lächeln des Entzückens entlockte. Shichisaburô stammte aus einer vornehmen alten Schauspielerfamilie, die seit Jahrhunderten für die Unterhaltung der japanischen Herrscher sorgte. Und nun gehörte dieser Junge, bei dem die Schönheit und Begabung ganzer Schauspielergenerationen gleichsam ihren Höhepunkt erreichten, ihm allein.
»Schenk mir Sake ein«, befahl Yanagisawa und fügte großmütig hinzu: »Und dir selbst auch.«
»Ja, Herr. Danke, Herr.« Shichisaburô nahm die Karaffe. »Oh, der Sake ist kalt. Bitte erlaubt mir, ihn für Euch zu wärmen. Darf ich Euch solange mit einer anderen Erfrischung erfreuen, Herr?«
Von Begierde erfüllt, beobachtete Yanagisawa, wie der junge Schauspieler den Krug über einem der Holzkohleöfen auf einen Rost stellte und Reiskuchen auf eine Servierplatte legte. Zu Beginn ihrer Beziehung hatte Shichisaburô sich präzise und knapp ausgedrückt und mit fester, klarer Stimme gesprochen, doch er war klug und hatte rasch die blumige Sprache Yanagisawas übernommen; inzwischen kamen ihm die langen und übertrieben förmlichen Sätze fließend über die Lippen. Und
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