Das Geheimnis
ihre Eltern zufrieden. Trotzdem wären die Schläge und Beschimpfungen vielleicht noch zu ertragen gewesen, hätten die Kinder Zuneigung und Trost bei Menschen außerhalb der eigenen Familie gefunden, oder in ihrer gegenseitigen Liebe; doch die Eltern hatten dies unmöglich gemacht.
»Diese Bälger sind unter deiner Würde«, sagte die Mutter stets zu Yanagisawa und seinen Geschwistern und untersagte ihnen, mit den Kindern der anderen Gefolgsleute des Fürsten Takei zu spielen. »Eines Tages werden du und dein Bruder ihre Vorgesetzten sein.«
Bald lernten die Kinder, wie sie einer Bestrafung entgehen konnten, indem sie anderen die Schuld zuschoben. So blieb es nicht aus, dass die Geschwister einander hassten und misstrauten.
Während all dieser schrecklichen Jahre hatte der junge Yanagisawa nur ein einziges Mal geweint: an jenem kalten, regnerischen Tag, als sein Bruder Yoshihiro beigesetzt worden war, der im Alter von 17 Jahren seppuku begangen hatte, rituellen Selbstmord. Als die Gebetsgesänge der Priester erklangen, weinten Yanagisawa und Kiyoko bittere Tränen. Sie waren die einzigen Menschen unter den Trauergästen, die Gefühle zeigten.
»Hört auf!«, zischten die Eltern ihnen zu und gaben ihnen Kopfnüsse. »Was für ein jämmerliches Bild der Schwäche ihr bietet! Was sollen die Leute denken? Könnt ihr der Familie denn nicht einmal Ehre machen, so wie Yoshihiro es getan hat?«
Doch Yanagisawa und Kiyoko wussten, dass der Selbstmord ihres Bruders keine Frage der Ehre gewesen war: Der älteste Sohn der Familie war unter dem Druck zerbrochen, die wichtigste Person in den ehrgeizigen Plänen der Eltern zu sein. Doch er hatte ihre Erwartungen nicht erfüllen können, sodass er schließlich seppuku begangen hatte, um die schrecklichen Zornesausbrüche nicht mehr ertragen zu müssen. Und Yanagisawa und Kiyoko weinten nicht um den Bruder, sondern um sich selbst, weil ihre Eltern das Leben der Kinder gegen einen höheren gesellschaftlichen Rang getauscht hatten.
Kiyoko, inzwischen 15 Jahre alt und mit einem wohlhabenden Beamten verheiratet, hatte ein Kind verloren, als sie von ihrem Mann verprügelt worden war; nun war sie das zweite Mal schwanger. Und der elfjährige Yanagisawa hatte drei Jahre lang als Fürst Takeis Page gedient – und der sexuellen Befriedigung des Fürsten. Doch mehr noch als sein kindlicher Körper hatte sein Stolz unter dem entwürdigenden Missbrauch durch Fürst Takei gelitten.
Als der Rauch des Scheiterhaufens über den Verbrennungsplatz wehte, war eine tiefgreifende Veränderung mit Yanagisawa vor sich gegangen. Es war, als leerten die Tränen ein Becken in seinem Innern, in dem sich all sein Schmerz und Kummer angesammelt hatte, bis nur noch ein bitterer Bodensatz aus unerschütterlicher Entschlossenheit übrig geblieben war. Yoshihiro war gestorben, weil er schwach gewesen war, und Kiyoko war ein hilfloses Mädchen. Yanagisawa aber legte in dieser Stunde den Schwur ab, eines Tages der mächtigste Mann des Landes zu sein. Dann konnte ihn niemand mehr missbrauchen, bestrafen oder demütigen. Und er würde sich an allen rächen, die ihm jemals Schmerz zugefügt hatten. Dann mussten sie seine Befehle befolgen und seinen Zorn fürchten.
Elf Jahre später hörte Tokugawa Tsunayoshi, der zukünftige Shôgun, Berichte über einen jungen Mann, der seiner Klugheit und seines blendenden Aussehens wegen einen atemberaubend schnellen Aufstieg unter den Gefolgsleuten des Fürsten Takei gemacht hatte. Tsunayoshi, der sich zu gut aussehenden Männern sexuell hingezogen fühlte, berief Yanagisawa zu sich in den Palast von Edo. Als die Wachen Yanagisawa in Tsunayoshis Gemächer führten, sah dieser sich einem stattlichen jungen Mann von blendendem Äußeren und mit ausdrucksvollen dunklen Augen gegenüber. Tsunayoshi, damals 29 Jahre alt, war dermaßen fasziniert, dass er das Buch zu Boden fallen ließ, in dem er gerade gelesen hatte, und seinen jungen Besucher anstarrte.
»Wunderschön«, flüsterte er, und Staunen legte sich auf seine weichen, weibischen Züge. »Lasst uns allein«, befahl er den Wachen.
Diesmal wusste Yanagisawa um seine Grenzen und Möglichkeiten. Der vergleichsweise niedrige Status und die relative Armut seiner Familie waren Hindernisse auf dem Weg zu seinem Ziel, in die höheren Ränge des bakufu aufzusteigen, doch Yanagisawa hatte gelernt, die geistigen und körperlichen Vorzüge zu nutzen, die ihm die Schicksalsgötter gewährt hatten. Als er Tokugawa Tsunayoshi nun in
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