Das geheimnisvolle Tuch
fast immer mit dem selben Satz beginnend: „Bist du eingeschlafen oder denkst du nach?“
Er schaute dabei zu Tom hinunter, der mit dem linken Arm den Kopf abstützend vor seinem Schultisch saß und mit einem Lächeln die Bilder genoss, die im Moment durch seine Gedanken strömten.
Vinc, wie erwähnt Toms bester Freund und Sitznachbar, erkannte an den ruhigen gleichmäßigen Atemzügen des Kumpels, seinen tiefen Schlaf. Vinc versuchte, ihn durch Hüsteln zu wecken, doch zu spät, denn der Lehrer sah auch ihn mit strafenden Blicken an, als er den ersten Ton des Räusperns über die Lippen brachte.
„Nun?“ Die Lehrkraft sah streng zu dem noch regungslosen Schüler. „Hallo! Herr Tom! Geruhen der Herr aufzuwachen?“ Diese Sätze kannten auch die anderen Schüler und sprachen sie flüsternd mit.
Vinc sah mitleidig zu seinem Freund. Obwohl er nur einige Zentimeter von ihm entfernt war, konnte er ihn nicht anstoßen, denn das würde ihn in den Unwillen des Lehrers weiter mit einbeziehen.
„Schwabbel“ nannten die Schüler ihren Pädagogen wegen seines Bauchs, denn wenn er gut aufgelegt war, schwappte die Wampe beim Lachen auf und ab. Diesmal war sein Humor eher der schlechten Laune gewichen, denn eines konnte der Mann nicht leiden, wenn jemand an seinem Unterricht kein Interesse zeigte.
Obgleich er Tom mehrmals bei seinem Namen rief, war dieser so fest in seinen Träumen, dass er nicht reagierte. Der Lehrer hielt seine Taschenuhr in der Hand und schaute auf den Sekundenzeiger.
Vinc wusste, dass sich dadurch von Sekunde zu Sekunde das Maß der Strafe erhöhte. Er sah Tom von der Seite her an und erblickte einen lächelnd verzogenen Mundwinkel. Anschließend zu Schwabbel schauend bemerkte er dessen ungnädige Augen. Er wusste, jetzt war es an der Zeit, seinen Freund aus seinem süßen Schlaf zu holen.
Sein Gefährte stützte sich mit dem Arm zu seiner Seite hin ab. Vinc, dem nichts anderes einfiel, blätterte wie zufällig in einem Heft und prallte absichtlich mit seinem Ellbogen gegen den seines Freundes.
Toms Handfläche rutschte vom Kinn, der Arm flog beiseite. Seine Stirne schlug auf den Tisch und er erwachte mit einem kräftigen: „Autsch“. Er rieb sich über die schmerzhafte Blessur. Dann sah er die gnadenlosen Augen Schwabbels und versuchte unschuldig dreinzuschauen.
„Willkommen auf unserer Schule. Dich interessiert wohl der Unterricht nicht? Damit du ihn attraktiver findest, schreibst du mir bis morgen eine Abhandlung über das Thema dieser Stunde.“ Der Lehrer schritt zurück zu seinem Tisch.
Tom freute sich diesmal über diese harmlose Strafe, denn eine Seite wäre wohl schnell zu schaffen. Sonst bekam er stets als Strafe, zwanzig Seiten über irgendein Thema zu schreiben und das auch noch als DIN A vier Seiten. Doch nicht lange währte seine Freude, die in den nachfolgenden Worten Schwabbels jäh ein Ende fand. Denn während er noch den Rücken zukehrte sagte er: „Nicht unter zwanzig Seiten.“ Der Lehrer drehte sich wieder der Klasse zu und sah Tom noch eindringlicher an: „DIN A vier“.
„Konntest du mich nicht wecken?“, zischte Tom Vinc zu, nachdem sich der Lehrer wieder der Tafel zuwendete.
„Wie denn? Ich war froh, dass ich vorher wach war. Der kam wie Kai aus der Kiste auf uns zu. Bin glücklich, dass ich davon kam."
„Ach ja, Vinc, du schreibst mir, allerdings nur zehn Seiten, darüber, wie man seinen Freund warnt, ohne aufzufallen. Den Trick mit dem Heft kenne ich bereits.“ Der Lehrer sagte es, ohne sich von der Tafel abzuwenden. „Tja, so ist es nun einmal. Jede Freundschaft hat ihren Preis“, fügte er noch erheitert hinzu.
Kurz darauf schrillte die Glocke und beendete die verdorbene Unterrichtsstunde.
Tom und Vinc eilten aus dem alten denkmalgeschützten Schulgebäude. Dieser, aus roten Ziegelsteinen gemauerte Bau, hatte durch das Alter einige Mängel, deren Beseitigung wegen fehlenden Geldes nur in größeren Abständen erfolgte. Auch das Alter hatte seine gute Seite, wenigstens in diesem heißen Sommer. Innen war es, durch die dicken Mauern, angenehm kühl.
Die beiden Jungen drängten sich mit einigen anderen Schülern durch das enge Tor des Schulhofes, wodurch es immer wieder zu Rempeleien kam. Fast jeder kannte nur ein Ziel. Das Schwimmbad.
Tom und Vinc aber war im Moment nicht nach Trubel zumute, sie zogen es vor, sich auf ihre Lieblingsbank, die dicht am Weiher des gepflegten Stadtparks unter einem schattigen Baum stand, zu setzen.
„Eigentlich hatte
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