Das Geiseldrama
Selbstkurieren — ohne das Risiko der Entdeckung? Wachte Dikal
die ganze Nacht bei seinem Komplicen? Wenn der nun stöhnte, brüllte,
phantasierte, die Nachbarn weckte?
„Sie brauchen einen Schlupfwinkel“,
sprach Görr zu sich selbst. Mit der flachen Hand klatschte er sich vor die
Stirn.
Die Hütte!
Gab’s was Besseres dafür?
An Schlaf war nicht mehr zu
denken.
Grinsend stieg er in seinen
Jaguar.
Er kannte die Strecke. Mehrmals
war er draußen bei der Hütte gewesen. Sowas wie Abenteuerlust pulste ihm durch
die Adern, als er die Richtung einschlug. Ob Dikal gesehen hatte, wer seinen
Komplicen niederschlug?
Außerhalb der Stadt begegneten
ihm nur wenige Fahrzeuge. Dann, als er der Landstraße folgte, war er auf weiter
Strecke allein.
Die Nacht lag über den Feldern.
Im Rückspiegel sah er das Häusermeer der Stadt. Die Fahrbahn stieg an. Bevor er
die Kuppe des Hügels erreichte, gewahrte er den Feuerschein.
Ein Lagerfeuer um diese Zeit?
Jenseits des Hügels wuchs ein
massiver Baum im Scheitelpunkt einer leichten Kurve. Der Baum loderte.
Um seinen Stamm hatte sich ein
Wagen gewickelt. Benzin war ausgeflossen, das Wrack explodiert.
Dem Immobilien-Makler stockte
der Atem.
Er hielt in sicherer
Entfernung. Er stieg aus und ging näher. Wrack und Baum waren nicht zu retten.
Metall glühte. Funken flogen durch die Nacht. Aber ringsum waren nur Feld und
feuchte Erde. Ausbreiten konnte sich das Feuer nicht.
Die Insassen? Verbrannt?
Er ging näher heran und — sah
Dikal.
Der Lehrer lag auf dem Boden,
auf weicher, feuchter Erde — ein Dutzend Schritte vom Feuer entfernt. Er lag
auf dem Bauch und rührte sich nicht.
Görr kniete neben ihm.
Dikal atmete. Äußere
Verletzungen waren nicht zu erkennen. Tiefe Ohnmacht umfing ihn. Im Mundwinkel
war etwas Blut.
Er ist bereits auf dem Rückweg
gewesen, dachte Görr. Ist gerast wie ein Irrer. Und diesmal hat’s ihn erwischt.
Krach! Und rausgeschleudert. Junge, dein Glück! Sonst wärst du jetzt verschmort
wie ein Bratapfel.
Er bettete ihn seitlich, wie es
der Erste-Hilfe-Kurs vorschreibt, sorgte dafür, daß Dikal nicht erstickte,
falls er erbrach.
Dann sah er in das Wrack. War
der andere noch drin gewesen? Nein. Niemand.
Görr ging wieder zu Dikal und
zog ihm die Brieftasche aus der Jacke.
Sie enthielt 420 Mark, die er
an sich nahm. Verwundert betrachtete er die gefaltete Wanderkarte. Sie sah neu
aus und zeigte das Naturschutzgebiet im Süden der Stadt: den ausgedehnten Wald
mit allen markanten Stellen. Um eine — den SCHIEFEN TURM — war mit schwarzem
Filzstift ein Kringel gemalt.
Der SCHIEFE TURM war eine
Felsformation am Rande einer großen Lichtung. Nur sehr ausdauernde Wanderer
schafften es bis dorthin. Hatte Dikal das vorgehabt?
Görr steckte die Karte ein,
bückte sich abermals und klopfte seinem vermeintlichen Freund die Taschen ab.
Irgendwo mußte ein Schlüsselbund stecken — mit Schlüsseln vom Internat und dem
Sicherheitsschlüssel der Hütte. Den Autoschlüssel, der jetzt im Wagen
verglühte, hatte Dikal gesondert getragen.
Görr fand das Schlüsselbund.
Den Hüttenschlüssel nahm er an sich. Die übrigen wanderten in Dikals Tasche
zurück.
Görr fuhr bis zum Stadtrand,
ging in die erste Telefonzelle, die er entdeckte, und verständigte die
Notarzt-Zentrale. Er beschrieb genau, wo sich der Unfall ereignet hatte. Dann
legte er auf. Seinen Namen hatte er nicht genannt.
8. Die
48-Stunden-Frist
Beim Frühstück im Speisesaal
sprach sich Dikals Unfall mit Windeseile herum. Als Dr. Freund, der Direktor,
die Nachricht mit ernster Stimme bekanntgab, wußten die meisten schon Bescheid.
Klößchen zwinkerte Tarzan zu,
als hätte er in jedem Auge ein Gerstenkorn. Das gehörte zu seiner Art, geheime
Signale zu geben. Aber in Anbetracht seiner Drolligkeit wunderte sich niemand.
„Was sagst du dazu?“ meinte er
— und schützte mit beiden Armen den Frühstücksteller, auf dem er fünf Semmeln
gehortet hatte. „Zischt der nachts durch die Landschaft. Jetzt liegt er
schwerverletzt im Krankenhaus — im Komma, wie man sagt — und...“
„Nicht Komma. Mit
Zeichensetzung hat das nichts zu tun. Im Koma (langandauernde Bewußtlosigkeit). Mit einem M.“
„Glaubst du, das weiß er, wo er
doch total ohne Besinnung ist. Wer denkt da an Rechtschreibung!“ Klößchen biß
in eine Semmel. „Jedenfalls wissen wir jetzt, wo er war.“
„So? Wo denn?“ Tarzan griff zur
Teekanne.
„Na, unterwegs.“ Klößchen
überlegte. „Sicherlich
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