Das Geisterhaus
gegangen«, sagte er aufschluchzend.
Zehntes Kapitel
Die Zeit des Niedergangs
Ich kann nicht darüber sprechen. Aber ich will versuchen, es
aufzuschreiben. Zwanzig Jahre sind vergangen, und lange hatte
ich einen unveränderlichen Schmerz in mir. Ich glaube, ich
würde mich nie trösten können, aber jetzt, mit beinahe neunzig
Jahren, begreife ich, was sie meinte, als sie uns versicherte, daß
sie sich mühelos mit uns würde verständigen können, weil sie in
diesen Dingen große Übung habe. Jede Nacht, wenn ich mich
schlafen legte, stellte ich mir vor, sie wäre bei mir, so wie sie
war, als sie noch ihre Zähne hatte und mich liebte. Ich löschte
das Licht, ich schloß die Augen, und in der Stille meines
Zimmers versuchte ich sie zu sehen, ich rief sie, wenn ich wach
lag, und auch im Schlaf soll ich nach ihr gerufen haben.
In der Nacht, in der sie starb, schloß ich mich mit ihr ein.
Nach den vielen Jahren, in denen wir nicht miteinander
gesprochen hatten, verbrachten wir diese letzten Stunden
gemeinsam, lagen beide auf dem Segelschiff im stillen Wasser
der blauen Seide, wie sie ihr Bett nannte, und ich nutzte die Zeit,
um ihr alles das zu sagen, was ich ihr früher nicht hatte sagen
können, was ich verschwiegen hatte seit jener schrecklichen
Nacht, in der ich sie schlug. Ich zog ihr das Nachthemd aus und
tastete sie vorsichtig ab, nach der Spur einer Krankheit suchend,
die ihren Tod gerechtfertigt hätte, und als ich keine fand, wußte
ich, daß sie einfach ihre Aufgaben auf Erden erfüllt hatte und in
eine andere Dimension geflogen war, in der ihr Geist, endlich
frei von der Last des Materiellen, sich wohler fühlte. Es war
nichts Entstellendes, auch nichts Schreckliches an ihrem Tod.
Ich untersuchte sie lange, da ich seit vielen Jahren keine
Gelegenheit mehr gehabt hatte, sie nach Belieben anzuschauen,
und in dieser Zeit hatte sich meine Frau verändert, wie wir alle
es mit fortschreitendem Alter tun. Sie erschien mir so schön wie
immer. Sie war schmaler geworden, und ich glaubte, sie sei auch
gewachsen, größer geworden, aber dann begriff ich, daß es eine
Täuschung war, hervorgerufen durch mein eigenes
Kleinerwerden. Früher kam ich mir an ihrer Seite wie ein Riese
vor, und als ich mich jetzt neben sie ins Bett legte, bemerkte ich,
daß wir fast gle ich groß waren. Sie hatte noch ihr buschiges
Haar mit den widerspenstigen Löckchen, das mich so entzückt
hatte, als wir heirateten, nur war es milder geworden durch ein
paar weiße Strähnen, die ihr schlafendes Gesicht heller
erscheinen ließen. Sie war sehr bleich und hatte Schatten unter
den Augen, und zum erstenmal entdeckte ich, daß sie an den
Mundwinkeln und auf der Stirn kleine, feine Falten hatte. Sie
wirkte wie ein Mädchen. Sie war kalt, aber sie war dieselbe
sanfte Frau wie immer, und ich konnte ruhig mit ihr sprechen,
sie streicheln, eine Weile schlafen, wenn die Müdigkeit den
Kummer überwand, ohne daß die unabänderliche Tatsache ihres
Todes unser Beisammensein beeinträchtigt hätte. Endlich
versöhnten wir uns.
Als es Tag wurde, begann ich sie herzurichten, damit alle sie
schön präsentiert sähen. Ich zog ihr eine weiße Tunika an, die
ich in ihrem Schrank fand, überrascht, daß sie so wenig Kleider
hatte, denn ich hatte immer geglaubt, sie sei eine elegante Frau.
Ich fand ein Paar Wollsocken und zog sie ihr an, damit sie keine
kalten Füße bekam, denn sie war sehr verfroren. Dann bürstete
ich ihr Haar und wollte ihr eigentlich den Knoten machen, den
sie immer trug, aber unter der Bürste richeten sich die Löckchen
auf und bildeten einen Rahmen um ihr Gesicht, und mir schien,
daß sie so hübscher aussah. Ich suchte ihren Schmuck, um ihr
das eine oder andere Stück anzulegen, konnte ihn aber nicht
finden, so daß ich mich damit begnügen mußte, mir den
goldenen Ehering, den ich seit unserer Verlobung trug,
abzuziehen und ihr an den Finger zu stecken, als Ersatz für den,
den sie ablegte, als sie mit mir brach. Ich schüttelte die Kissen
auf, strich das Bett glatt, gab ihr ein paar Tropfen
Kölnischwasser auf den Hals und öffnete dann das Fenster,
damit der Morgen hereinkam. Als alles fertig war, öffnete ich
die Tür und ließ meine Kinder und meine Enkelin herein. Sie
fanden Clara lächelnd, sauber und schön, wie sie immer
gewesen war. Ich war zehn Zentimeter kleiner geworden, meine
Schuhe schlappten mir an den Füßen, und mein Haar war
endgültig weiß, aber ich weinte
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