Das Geisterhaus
sich angewöhnt
hatte, Schach spielend seine Schlaflosigkeit zu überspielen, die
Sache zwischen zwei Partien zur Sprache, und seine listigen,
hinter dicken, dunkel gerahmten Brillengläsern versteckten
Augen forschten nach einem Zeichen der Verlegenheit an
seinem Freund, aber Jaime fuhr fort, die Steine aufzustellen,
ohne darauf einzugehen.
»Der alte Trueba hat Mumm in den Knochen«, sagte der
Präsident. »Er würde es verdienen, einer der unsern zu sein.«
»Sie ziehen, Präsident«, antwortete
Jaime, auf das Spiel
deutend.
In den folgenden Monaten verschlimmerte sich die Lage
erheblich, Chile glich einem Land im Kriegszustand. Die
Gemüter waren erhitzt, vor allem die der Frauen der Opposition,
die auf die Straße zogen und als Protest gegen die
Lebensmittelknappheit auf ihre Kochtöpfe trommelten. Die eine
Hälfte der Bevölkerung versuchte die Regierung zu stürzen, die
andere verteidigte sie, so daß keinem Menschen mehr Zeit blieb,
seiner Arbeit nachzugehen. Eines Nachts sah Alba erstaunt, daß
die Straßen der Innenstadt dunkel und leer waren. Eine Woche
lang war der Müll nicht abgeholt worden, und streunende Hunde
scharrten in den Abfallhaufen. An allen Pfosten waren
Propagandadrucksachen angeschlagen, die der Winterregen
verwaschen hatte, und auf jeder verfügbaren Fläche standen die
Losungen beider Parteien. Die Hälfte aller Straßenlampen waren
mit Steinen zertrümmert, in den Gebäuden war kein Fenster
erleuchtet, Licht kam nur von ein paar traurigen, mit Zeitungen
und Brettern geschürten Feuerchen, an denen sich die kleinen
Gruppen Männer wärmten, die schichtweise vor Ministerien,
Banken und Büros Wache hielten, um zu verhindern, daß
Banden der extremen Rechten sie nachts im Handstreich
besetzten. Alba sah einen kleinen Lieferwagen vor einem
öffentlichen Gebäude halten. Mehrere weißbehelmte junge
Männer mit Farbkübeln und Pinseln sprangen von ihm ab und
strichen einen hellen Untergrund auf die Wände. Darauf
pinselten sie große bunte Tauben, Schmetterlinge und blutende
Blumen, Verse des Dichters und Aufrufe an das Volk. Es waren
die Jugendbrigaden, die glaubten, sie könnten mit patriotischen
Wandmalereien und pamphletistischen Tauben ihre Revolution
retten. Alba trat zu ihnen und deutete auf ein Wandbild auf der
anderen Straßenseite. Es bestand aus roten Flecken, über die in
großen Buchstaben ein einziges Wort geschrieben war:
Djakarta. »Was bedeutet dieser Name, Genossen?« fragte sie.
»Wir wissen es nicht«, antworteten sie.
Niemand wußte, warum die Opposition diesen fernöstlichen
Namen an die Wände malte, sie hatten nie etwas von den
Bergen von Toten in den Straßen dieser fernen Stadt gehört.
Alba stieg auf ihr Fahrrad und fuhr nach Hause. Seit das Benzin
rationiert war und die öffentlichen Verkehrsmittel bestreikt
wurden, fuhr sie wieder auf ihrem alten Kinderfahrrad, das sie
aus dem Keller hervorgekramt hatte. Sie dachte an Miguel, und
ein dunkles Vorgefühl schnürte ihr die Kehle zu.
Schon seit geraumer Zeit ging sie nicht mehr in ihre
Vorlesungen, so daß ihr allmählich die Zeit lang wurde. Die
Professoren waren in einen unbefristeten Streik getreten, und die
Studenten hielten die Universitätsgebäude besetzt. Überdrüssig,
zu Hause Violoncello zu üben, nutzte sie die Zeit, die sie nicht
mit Miguel im Bett, mit Miguel spazierengehend, mit Miguel
diskutierend verbrachte, um im Armenkrankenhaus zu helfen,
wo ihr Onkel Jaime und einige wenige Ärzte ihren Beruf weiter
ausübten, entgegen dem Befehl des Ärztekollegiums, die Arbeit
einzustellen, um die Regierung zu sabotieren. Die Gänge waren
vollgestopft mit Patienten, die seit Tagen wie eine stöhnende
Herde daraufwarteten, behandelt zu werden. Die Krankenwärter
reichten nicht aus. Jaime schlief mit dem Skalpell in der Hand
ein, er war so beschäftigt, daß er oft keine Zeit zum Essen fand.
Er nahm ab und wurde mager. Er machte Schichten von
achtzehn Stunden, und wenn er sich auf seine Pritsche warf,
konnte er nicht einschlafen, weil er an die Kranken denken
mußte, die auf ihn warteten, und daran, daß es keine Anästhesie
und keine Watte mehr gab und daß er allein es nicht schaffen
würde, auch wenn er sich in tausend teilte, weil es war, als
würde er einen fahrend en Zug mit der bloßen Hand aufhalten.
Auch Amanda arbeitete als Freiwillige im Krankenhaus, um
Jaime nahe zu sein und um eine Beschäftigung zu haben. In
diesen langen, erschöpfenden Tagen bei der Pflege unbekannter
Kranker gewann
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