Das Geisterhaus
Allerdringlichste
gewesen, denen, die in Lebensgefahr schwebten, ein Asyl zu
verschaffen. Anfangs erschien es Alba eine fast vergnügliche
Beschäftigung, die ihr half, an andere Dinge und nicht an
Miguel zu denken, aber bald wurde ihr klar, daß es kein Spiel
war. Durch Erlasse wurden die Staatsbürger darauf hingewiesen,
daß sie die Pflicht hatten, alle Marxisten anzuzeigen und
Flüchtlinge auszuliefern, andernfalls würden sie selbst als
Vaterlandsverräter betrachtet und als solche abgeurteilt.
‘Wunderbarerweise konnte
Alba das Auto von
Jaime
zurückholen, das dem Bombardement entgangen war und eine
Woche lang an derselben Stelle geparkt stand, wo er es hatte
stehen lassen, bis Alba es erfuhr und es holen ging. Sie malte
ihm zwei große Sonnenblumen auf die Türen, damit es von
anderen Autos abstach und ihr die neue Aufgabe erleichterte.
Sie mußte die Standorte aller Botschaften, die Schichten der
wachhabenden Militärpolizei, die Höhe der Gartenmauern und
die Durchmesser der Türen auswendig lernen. Der Hinweis, daß
jemand asylbedürftig war, kam immer überraschend, oft durch
einen Unbekannten, der sie auf der Straße ansprach und von
dem sie annahm, er sei von Miguel geschickt. Am hellen Tag
fuhr sie zu dem verabredeten Treffpunkt, und wenn sie
jemanden sah, der ihr Zeichen machte, weil er sie an den gelben
Blumen auf ihrem Auto erkannte, hielt sie kurz an, damit er
rasch einsteigen konnte. Unterwegs wurde nicht gesprochen,
weil sie lieber keine Namen wissen wollte. Manchmal mußte sie
einen ganzen Tag mit dem Passagier verbringen, ihn
gelegentlich sogar eine oder zwei Nächte verstecken, ehe sie den
geeigneten Augenblick fand, ihn an eine zugä ngliche Botschaft
zu fahren, wo er hinter dem Rücken der Wachsoldaten über die
Mauer springen konnte. Diese Methode nämlich erwies sich als
effizienter als Verhandlungen mit den eingeschüchterten
Botschaftern ausländischer Demokratien. Sie erfuhr nie wieder
etwas von dem Asylanten, aber dessen zitternde Danksagung
blieb ihr für alle Zeiten im Gedächtnis, und wenn alles vorbei
war, atmete sie erleichtert auf, weil er für diesmal
davongekommen war. Gelegentlich mußte sie dasselbe mit
Frauen machen, die sich nicht von ihren Kindern trennen
wollten, und obwohl Alba ihnen versprach, ihnen die Kinder
durch das Haupttor nachzuschicken, da sich auch der
ängstlichste Botschafter nicht weigern würde, sie aufzunehmen,
wollten die Mütter sie nicht zurücklassen, so daß man am Ende
auch die Kinder über die Mauern werfen oder an den
Gitterstäben des Zauns herablassen mußte. Bald waren alle
Botschaften mit Stacheldraht und Maschinengewehren gespickt,
und es war nicht länger möglich, sie im Sturm zu nehmen, aber
da war sie schon mit anderen Aufgaben beschäftigt.
Amanda war es, die sie mit den Pfarrern in Verbindung setzte.
Die beiden Freundinnen trafen sich, um sich flüsternd über
Miguel zu unterhalten, den keine von beiden wiedergesehen
hatte, und Jaimes zu gedenken in einer Trauer ohne Tränen, da
es für seinen Tod noch keinen offiziellen Beweis gab und beider
Wunsch, ihn wiederzusehen, stärker war als der Bericht des
Soldaten. Amanda war wieder dem Zwang zum Rauchen
verfallen, ihre Hände zitterten und ihr Blick wurde wieder fern.
Manchmal hatte sie erweiterte Pupillen und verlangsamte
Bewegungen, aber sie arbeitete weiter im Krankenhaus. Sie
erzählte Alba, daß sie oft Leute behandelte, die ohnmächtig vor
Hunger ins Krankenhaus gebracht wurden.
»Die Familien der Gefangenen, der Verschwundenen und der
Toten haben nichts zu essen. Arbeitslose ebensowenig. Kaum
einen Teller Maisbrei alle zwei Tage. Die Kinder schlafen in der
Schule ein, weil sie unterernährt sind.«
Das Glas Milch und die Kekse, die früher alle Schüler
bekamen, seie n abgeschafft worden, fügte sie hinzu, und die
Mütter stillten den Hunger ihrer Kinder mit dünnem Tee.
»Die einzigen, die etwas dagegen tun, sind die Pfarrer«,
erklärte Amanda. »Die Leute wollen die Wahrheit nicht wissen.
Aber die Kirche hat Kantinen eingerichtet und gibt sechsmal in
der Woche täglich einen Teller Essen an Kinder unter sieben
Jahren aus. Das ist natürlich nicht genug. Für jedes Kind, das
einmal am Tag einen Teller Linsen oder Kartoffeln bekommt,
müssen fünf draußen bleiben und zusehen, weil es für alle nicht
reicht.«
Alba begriff, daß sie in die alten Zeiten zurückgefallen waren,
in denen ihre Großmutter Clara ins Barrio de la
Weitere Kostenlose Bücher