Das Geisterhaus
Misericordia
gegangen war, um mangelnde Gerechtigkeit durch
Nächstenliebe zu ersetzen. Nur daß Nächstenliebe jetzt verpönt
war. Sie stellte fest, daß, wenn sie zu ihren Bekannten ging, um
ein Paket Reis oder einen Krug Pulvermilch von ihnen zu
erbitten, sie es ihr das erstemal nicht abzuschlagen wagten, ihr
dann aber aus dem Weg gingen. Anfangs half ihr Bianca. Es
kostete sie keine Mühe, sich von ihrer Mutter den Schlüssel zur
Vorratskammer aushändigen zu lassen mit dem Argument, daß
man wirklich nicht gewöhnliches Mehl und Saubohnen zu
horten brauche, wenn man Krabben aus dem Baltischen Meer
und Schweizer Schokolade essen konnte, und so sah sie sich in
der Lage, für eine Zeit, die ihr freilich sehr kurz erschien, die
Eßtische der Pfarrer zu versorgen. Eines Tages nahm sie ihre
Mutter in eine dieser Kantinen mit. Als Bianca den langen,
ungehobelten Holztisch sah, an dem zwei Reihen Kinder saßen
und mit flehenden Augen darauf warteten, ihre Ration zu
bekommen, fing sie zu weinen an und lag zwei Tage mit
Migräne im Bett. Sie hätte weiter gejammert, wenn ihre Tochter
sie nicht gezwungen hätte, sich anzuziehen, sich selbst zu
vergessen und Hilfe zu schaffen, und wenn sie dem Großvater
das Haushaltsgeld stehlen müßte. Wie andere Leute seiner
Gesellschaftsklasse wünschte Senator Trueba nicht, daß über
dieses Thema gesprochen würde. Er leugnete den Hunger mit
der gleichen Beharrlichkeit, mit der er auch Gefangene und
Folterungen abstritt, so daß Alba nicht auf ihn zählen konnte
und später, als auch ihre Mutter ausfiel, zu drastischeren Mitteln
übergehen mußte. Der Großvater ging nie weiter als bis in den
Club. Er mied die Innenstadt, und noch viel weniger kam er
jedem Stadtrand oder den Stadtrandsiedlungen nahe. Also fiel es
ihm nicht schwer, das Elend, von dem seine Enkelin ihm
berichtete, für reinen Marxistenschwindel zu halten.
»Kommunistische Pfarrer!« rief er aus. »Das hat mir gerade
noch gefehlt.«
Als aber zu jeder beliebigen Tageszeit bettelnde Kinder und
Mütter an die Haustüren kamen, befahl er nicht, die Gartentore
zu schließen und die Jalousien herunterzulassen, um sie nicht
mehr zu sehen, wie es andere machten, sondern er erhöhte
Biancas Haushaltsgeld und sagte, sie sollten immer etwas
warmes Essen für sie bereithalten.
»Das ist eine vorübergehende Situation«, versicherte er.
»Sobald die Militärs Ordnung in das Chaos gebracht haben, in
das die Marxisten das Land gestürzt haben, wird dieses Problem
gelöst sein.«
In den Zeitungen stand, die Bettler, die zum erstenmal seit
vielen Jahren wieder auf der Straße erschienen, seien vom
internationalen Kommunismus geschickt worden, um die
Militärjunta in Verruf zu bringen und um Ordnung und
Fortschritt zu sabotieren. Vor den Stadtrandsiedlungen wurden
Reklamewände aufgestellt, um das Elend vor den Augen der
Touristen und derer, die nicht sehen wollten, zu verstecken.
Eines Nachts tauchten wie durch Zauber schön gestutzte Hecken
und von Arbeitslosen gepflanzte Blumenbeete in den Avenidas
auf, um die Vorstellung eines friedlichen Frühlings zu
erwecken. Die Wandmalereien mit den pamphletistischen
Tauben wurden weiß übermalt und politische Anschläge für
immer den Blicken entzogen. Jeder Versuch, auf öffentlichen
Straßen politische Botschaften an die Wände zu schreiben,
wurde an Ort und Stelle mit einer Maschinengewehrsalve
bestraft. Die sauberen, aufgeräumten, stillen Straßen öffneten
sich dem Handel. Bald darauf verschwanden die bettelnden
Kinder, und
Alba bemerkte, daß es auch keine streunenden
Hunde und Müllhaufen mehr gab. Der Schwarzmarkt hatte in
demselben Augenblick aufgehört, in welchem der
Präsidentenpalast bombardiert worden war, denn Spekulanten
wurde mit Kriegsrecht und Erschießung gedroht. In den
Geschäften wurden nach und nach wieder Dinge verkauft, die
nicht einmal dem Namen nach bekannt waren, und andere, die
sich nur die Reichen auf Schmuggelwegen hatten beschaffen
können. Nie war die Stadt schöner und nie war das
Großbürgertum glücklicher gewesen: sie konnten fässerweise
Whisky und Autos auf Kredit kaufen.
Im patriotischen Überschwang der ersten Tage lieferten die
Frauen für den Wiederaufbau Chiles ihren Schmuck in den
Kasernen ab, sogar die Eheringe, für die sie kupferne Ringe mit
dem Hoheitszeichen des Vaterlandes erhielten. Bianca mußte
den Wollstrumpf mit den Juwelen, den Clara ihr vermacht hatte,
verstecken, damit Senator Trueba den Schmuck nicht bei den
Behörden
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