Das Geisterhaus
Beruhigungsmittel, die er mir heimlich spritzte,
so lange, bis ich aufhörte zu delirieren. Rojas hatte in der Klinik
einen endlos langen Zug von Jammergestalten gepflegt. Er hatte
festgestellt, daß die meisten von ihnen weder Mörder noch
Vaterlandsverräter waren, und hatte deshalb ein Herz fü r die
Gefangenen. Oft hatte er gerade jemanden zusammengeflickt, da
holten sie ihn wieder ab. »Es ist wie Sand ins Meer schaufeln«,
sagte er traurig. Ich wußte, daß mehrere ihn gebeten hatten, er
solle ihnen helfen zu sterben, und mindestens in einem Fall hat
er es, glaube ich, getan. Rojas führte genau Buch über jeden, der
kam, und jeden, der ging, und konnte sich zweifelsfrei an die
Namen, Daten und Umstände erinnern. Er schwor mir, daß er
nie etwas von Miguel gehört habe, und das gab mir den Mut
weiterzuleben, obwohl ich doch noch manchmal in das schwarze
Loch der Depression fiel und wieder mit der alten Leier anfing,
daß ich sterben wolle. Er erzählte mir auch von Amanda. Sie
hatten sie zur selben Zeit wie mich festgenommen. Als sie zu
Rojas kam, war schon nichts mehr zu machen. Sie starb, ohne
ihren Bruder verraten zu haben, und erfüllte damit ein
Versprechen, das sie ihm vor vielen Jahren gegeben hatte, an
dem Tag, an dem sie ihn zum erstenmal zur Schule brachte. Der
einzige Trost ist, daß es bei ihr sehr viel schneller ging, als die
anderen das wünschten, weil ihr Organismus von den Drogen
und dem unendlichen Kummer über den Tod Jaimes geschwächt
war. Rojas pflegte mich, bis das Fieber sank, die Hand zu
vernarben begann und ich wieder bei Verstand war, dann hatte
er keinen Vorwand mehr, mich länger zu behalten. Aber ich
wurde nicht wieder zu Esteban García gebracht, wie ich
gefürchtet hatte. Vermutlich wirkte zu diesem Zeitpunkt schon
der Einfluß jener Frau mit dem Perlenkollier, die ich später mit
dem Großvater besuchte, um ihr dafür zu danken, daß sie mir
das Leben gerettet hatte. Vier Männer kamen in der Nacht, um
mich abzuholen. Rojas weckte mich, half mir, mich anzuziehen,
und wünschte mir alles Gute. Ich küßte ihn zum Dank.
»Adiós, Kindchen! Wechseln Sie den Verband und machen
Sie ihn nicht naß. Wenn Sie wieder Fieber bekommen, dann hat
sich die Wunde noch einmal infiziert«, rief er mir von der Tür
aus nach.
Sie brachten mich in eine enge Zelle, in der ich den Rest der
Nacht auf einem Stuhl verbrachte. Am nächsten Tag fuhren sie
mich in ein Konzentrationslager für Frauen. Nie werde ich den
Augenblick vergessen, als sie mir die Binde von den Augen
nahmen und ich in einem viereckigen hellen Hof stand,
umgeben von Frauen, die für mich die Hymne an die Freude
sangen. Meine Freundin Ana Díaz war unter ihnen, sie lief zu
mir, um mich zu umarmen. Rasch legten sie mich auf eine Bahre
und machten mich mit den Regeln der Gemeinschaft und mit
meinen Verantwortlichkeiten bekannt.
»Solange du nicht geheilt bist, brauchst du weder zu waschen
noch zu nähen, aber du mußt auf die Kinder aufpassen«,
bestimmten sie.
Ich hatte mit einiger Haltung die Hölle durchgestanden, aber
als ich fühlte, daß ich wieder unter Menschen war, zerbrach ich.
Das kleinste liebevolle Wort löste bei mir einen Weinkrampf
aus, nachts lag ich mit offenen Augen in der Dunkelheit
zwischen den anderen Frauen, die abwechselnd bei mir wachten
und mich nie allein ließen. Sie halfen mir, als mich die
schrecklichen Erinnerungen zu foltern begannen oder mir Oberst
Garcia erschien und mich in Panik versetzte oder Miguel mir in
einem Schluchzen steckenblieb.
»Denk nicht an Miguel«, sagten sie, insistierten sie. An die,
die man liebt, und an die Welt jenseits dieser Mauern darf man
nicht denken. Das ist die einzige Möglichkeit zu überleben.
Ana Díaz besorgte sich ein Schulheft und schenkte es mir.
»Damit du schreiben kannst. Vielleicht bringst du damit
heraus, was in dir vor sich hin fault, und es geht dir besser und
du singst mit uns und hilfst uns nähen«, sagte sie.
Ich zeigte ihr meine Hand und schüttelte den Kopf, aber sie
drückte mir den Bleistift in die andere und sagte, ich solle mit
der linken schreiben. Nach und nach tat ich es. Ich versuchte die
Geschichte zu ordnen, die ich ihm Hundestall angefangen hatte.
Meine Genossinnen halfen mir, wenn ich die Geduld verlor und
mir der Bleistift in der Hand zitterte. Manchmal warf ich alles
weit fort, aber gleich holte ich das Heft wieder und strich es
liebevoll glatt, weil ich nicht wußte, wann ich ein
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