Das Geisterhaus
neues
bekommen würde. Andere Male wachte ich traurig und voller
Vorahnungen auf, drehte mich zur Wand und wollte mit
niemandem sprechen, aber sie ließen mich nicht, sie rüttelten
mich auf und zwangen mich zu arbeiten, den Kindern
Geschichten zu erzählen. Sie wechselten vorsichtig meinen
Verband und legten das Papier vor mich hin.
»Wenn du willst, erzähle ich dir meinen Fall, damit du ihn
aufschreiben kannst«, sagten sie zu mir. Sie lachten und
spotteten, denn alle Fälle waren gleich, sagten sie, und es sei
besser, Liebesgeschichten zu schreiben, weil Liebesgeschichten
jedermann gefallen. Sie zwangen mich auch zu essen. Sie
verteilten die Portionen streng und gerecht, gaben jedem soviel,
als er unbedingt brauchte, und mir gaben sie ein bißchen mehr,
denn ich sei nur noch Haut und Knochen, sagten sie, nicht mal
der geilste Mann würde mich anschauen. Ich zuckte zusammen,
aber Ana Díaz erinnerte mich daran, daß ich nicht die einzige
Frau war, die vergewaltigt worden war, und daß ich das
vergessen müßte, wie vieles andere auch. Den ganzen Tag über
sangen die Frauen aus vollem Hals. Die Polizisten schlugen an
die Wand.
»Aufhören, ihr Huren!«
»Macht uns still, wenn ihr könnt, Schlappschwänze, mal
sehen, ob ihr euch traut«, schrien sie zurück, und die Soldaten
kamen nicht herein, weil sie gelernt hatten, daß sich das
Unvermeidliche nicht vermeiden läßt.
Ich versuchte, die kleinen Ereignisse in der Frauenabteilung
aufzuschreiben, daß sie die Schwester des Präsidenten
festgenommen hatten, daß sie uns die Zigaretten wegnahmen,
daß neue Gefangene eingetroffen waren, daß Adriana wieder
einen Anfall hatte und sich auf ihre Kinder stürzte, um sie zu
töten, wir mußten sie ihr aus den Händen nehmen, und ich setzte
mich hin, in jedem Arm ein Kind, und erzählte ihnen die
magischen Geschichten aus den verwunschenen Koffern von
Onkel Marcos, bis sie einschliefen und ich an die Schicksale
dieser Kinder dachte, die hier neben ihrer wahnsinnig
gewordenen Mutter aufwuchsen, versorgt von anderen,
unbekannten Müttern, denen noch nicht die Stimme versagte,
wenn sie ein Wiegenlied sangen, und die noch trösten konnten,
und ich fragte mich, schrieb ich, auf welche Weise die Kinder
von Adriana einmal den Kindern oder den Enkeln der Frauen,
die sie in den Schlaf wiegten, Lied und Trost vergelten könnten.
Ich war nur wenige Tage im Konzentrationslager. An einem
Mittwochabend kamen Militärpolizisten mich abholen. Einen
Augenblick lang hatte ich panische Angst, weil ich dachte, sie
würden mich zu Esteban García bringen, aber die Genossinnen
sagten mir, wenn sie Uniformen trügen, wären sie nicht von der
Geheimpolizei, und das beruhigte mich ein wenig. Ich ließ den
Frauen meine Wolljacke, damit sie sie auftrennen und für die
Kinder etwas Warmes stricken konnten, und alles Geld, das ich
bei mir hatte, als sie mich festnahmen, und das sie mir in dieser
für das Militär so typischen Gewissenhaftigkeit im Belanglosen
zurückgegeben hatten. Ich steckte mir das Heft in die Hose und
umarmte meine Genossinnen eine nach der ändern. Das letzte,
was ich im Wegfahren hörte, war der Chor der Frauen, die
sangen, um mir Mut zu machen, wie sie das immer taten, wenn
eine Gefangene im Lager ankam oder es verließ. Weinend fuhr
ich ab. Hier war ich glücklich gewesen.
Ich erzählte dem Großvater, daß sie mich in einem
geschlossenen Wagen wegbrachten, mit verbundenen Augen,
während der Sperrstunde. Ich zitterte so, daß ich meine Zähne
klappern hörte. Einer der Männer, der im hinteren Teil des
Fahrzeugs bei mir war, gab mir ein Bonbon in die Hand und
tätschelte mir tröstlich die Schultern.
»Keine Angst, Señorita. Es passiert Ihnen nichts. Wir lassen
Sie frei, und in ein paar Stunden sind Sie bei Ihrer Familie«,
sagte er flüsternd.
Auf einer Müllhalde am Barrio de la Misericordia setzten sie
mich ab. Der Mann, der mir das Bonbon gegeben hatte, half mir
aussteigen.
»Vorsicht mit der Sperrstunde«, raunte er mir ins Ohr.
»Gehen Sie nicht weg, ehe es hell wird.«
Ich hörte den Motor anspringen und dachte, sie werden mich
überfahren, und dann steht in der Zeitung, ich sei bei einem
Autounfall ums Leben gekommen, aber das Fahrzeug fuhr ab,
ohne mich zu berühren. Ich wartete eine Zeitlang, gelähmt von
der Kälte und vor Angst, bis ich mich endlich entschloß, die
Binde abzunehmen und zu sehen, wo ich war. Ich blickte um
mich. Ich stand auf freiem Gelände, einer
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