Das Geisterhaus
Großväter bei ihrer
Besteigung angebracht hatten. An den eingeritzten Initialen
konnte man ablesen, wer höher hinaufgekommen und mutiger
gewesen war und wer aus Angst früher haltgemacht hatte. Eines
Tages war Juan an der Reihe, der blinde Vetter. Er tastete sich
an den Ästen hoch, ohne innezuhalten, weil er die Höhe nicht
sehen konnte und die Leere unter sich nicht fühlte. Er erreichte
den Wipfel, aber er konnte das Fest der Erstbesteigung nicht
begehen, weil er wie ein Wasserstrahl kopfüber hinunterstürzte
und seinem Vater und seinen Brüdern vor die Füße fiel. Er war
fünfzehn Jahre alt. In ein Bettuch gewickelt brachten sie ihn
seiner Mutter. Die arme Frau spuckte allen ins Gesicht,
beschimpfte sie mit Matrosenschimpfwörtern und verfluchte
diese Männer, die ihren Sohn aufgestachelt hatten, den Baum zu
besteigen - so lange, bis die Nonnen sie in der Zwangsjacke
fortbrachten. Ich wußte, daß meine Söhne eines Tages diese
barbarische Tradition würden fortsetzen müssen. Ich wollte
nicht, daß Luís und die anderen Söhne im Schatten dieses
Galgens aufwüchsen.«
Manchmal begleitete Clara ihre Mutter, wenn sie mit zwei
oder drei Frauenrechtlerinnen in eine Fabrik ging, sich auf eine
Kiste stellte und unter den spöttischen und aggressiven Blicken
der Vorarbeiter und der Inhaber, die sich in vorsichtiger
Entfernung hielten, zu den Arbeiterinnen sprach. Trotz ihrer
jungen Jahre und ihres Mangels an Weltkenntnis begriff Clara
das Absurde ihrer Situation. In ihren Heften beschrieb sie den
Kontrast: ihre Mutter und deren Freundinnen, in Pelzmänteln
und Wildlederstiefeln über Unterdrückung und Rechtsgleichheit
sprechend zu einer Gruppe trauriger, hoffnungsloser
Arbeiterinnen mit rotgefrorenen Händen und steifen
Drillschürzen. Aus den Fabriken gingen die Sufragetten in die
Konditorei an der Plaza de Armas und erörterten dort die
Fortschritte ihrer Kampagne bei Tee und kleinen Kuchen, ohne
daß dieses frivole Vergnügen sie auch nur ein Jota von ihren
hehren Idealen entfernt hätte. Andere Male nahm ihre Mutter sie
in die Elendsviertel und Stadtrandsiedlungen mit, im Wagen, der
vollgestopft war mit Lebensmitteln und den Kleidern, die Nivea
und ihre Freundinnen für die Armen genäht hatten. Auch bei
diesen Gelegenheiten bewies das kleine Mädchen eine
erstaunliche Auffassungsgabe: solche karitativen Werke, schrieb
sie, könnten die ungeheure Ungerechtigkeit nicht aus der Welt
schaffen. Das Verhältnis zu ihrer Mutter war ungetrübt und eng,
und Nivea behandelte sie, als ob sie ihre einzige Tochter wäre,
obwohl sie fünfzehn Kinder hatte. Die Bindung war so stark,
daß sie sich in den folgenden Generationen fortsetzte und zu
einer Familientradition wurde.
Die Nana war mittlerweile eine Frau ohne Alter geworden,
die sich die Kraft ihrer jungen Jahre bewahrt hatte und
gelegentlich noch in den Winkeln herumsprang, um die
Stummheit zu erschrecken, die aber auch einen ganzen Tag lang
die brodelnde Quittenkonfitüre im Kupferkessel umrühren
konnte, eine zähe topasfarbene Flüssigkeit, die nach dem
Erkalten in Formen aller Art gegossen und dann von Nivea unter
die Armen verteilt wurde. Gewohnt, unter Kindern zu leben,
wandte die Nana, als die meisten Söhne und Töchter del Valle
groß waren und das Haus verlassen hatten, ihre ganze
Zärtlichkeit Clara zu. Obwohl Clara längst über dieses Alter
hinaus war, badete sie sie wie einen Säugling in der emaillierten
Badewanne, parfümierte das Wasser mit Basilikum oder
Jasminessenz, rieb sie mit dem Schwamm ab, seifte sie
gründlich ein, ohne einen Spalt im Ohr oder an seinen Füßen
auszulassen, rieb sie mit Kölnischwasser ab, puderte sie mit
Schwanenflaum und bürstete ihr Haar mit unermüdlicher
Geduld, bis es glänzend und schmiegsam wurde wie eine
Meerespflanze. Sie kleidete sie an, sie bereitete ihr das Bett, sie
brachte ihr das Frühstück auf einem Tablett, gab ihr
Lindenblütentee für die Nerven, Kamillentee für den Magen,
Zitronensaft für durchsichtigen Teint, Raute für
Gallenbeschwerden und Minze für guten Mundgeruch, bis das
Kind ein schönes, engelgleiches Wesen wurde, das sich in einer
Wolke von Blumenduft, dem Rascheln ihrer gestärkten
Unterröcke und einer Aura von Locken und Bändern durch Höfe
und Gänge bewegte.
Clara verbrachte ihre Kindheit und frühe Jugend zu Hause in
einer Welt aus wunderbaren Geschichten und geruhsamer Stille,
in der die Zeit nicht mit Uhren und Kalendern
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