Das gelbe Hurentuch: Hannerl ermittelt (Historischer Roman) (German Edition)
die Gedanken des seltsamen Mannes vor dem Altar schier überschlugen, mit Mühe nur hielt er seine Knie gebeugt, hielt seine Finger gefaltet. Laut schreien und tanzen wollte er!
Stattdessen sammelte er sich mit aller Kraft, richtete sich langsam auf und verließ die Kapelle. Jetzt nur nichts verderben, sagte er sich und keuchte. Es fiel ihm schwer zu atmen, er begann zu schwitzen. Er versuchte, mit mühsam aufgebrachter Willenskraft in die angrenzenden Kammern zu gelangen. Dorthin wollte er, wo das Stadtgericht mit seinen Knechten, Schreibern und Schergen sein Quartier aufgeschlagen hatte.
»Ruhig bleiben, ruhig …«, hörte ihn Krispin im Vorbeigehen flüstern, und er folgte der Gestalt wie eine Ratte dem Flöte spielenden Fänger. Vielleicht konnte er so Zeuge eines wirklich grauslichen Vorfalls werden, mit dem er dann im Wirtshaus prahlen konnte! Mit einer besonders schaurigen Geschichte konnte er sich vielleicht so manches Viertel Wein ausgeben lassen! Der Mann war erschöpft, das sah Krispin. Seine Beine wollten ihm schon nicht mehr gehorchen. Er bekam nicht genug Luft, er zitterte, doch er hielt sich aufrecht und bewegte sich langsam aber stetig weiter. Krispin leckte sich die Lippen, als er ihn direkt in die Stube des Stadtrichters wanken sah. Gebannt blieb er im Türrahmen stehen. Wie war er aufgeregt!
Weniger aufgeregt, eher mit der Gelassenheit eines Mannes, dem schon eine ganze Menge untergekommen war, sah Valentin Frühauf von seinem Schreibpult hoch. Noch ehe die Gestalt ganz auf ihn zu geschlichen kam, traf ihn ein sonderbarer Gestank. Unwillig blähte er die Nasenflügel, erhob sich, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und war im Begriff, seines Amtes zu walten. Mehr oder weniger geduldig wartete er, bis dieser offensichtlich fest entschlossene Mann vor ihm angekommen war, dann donnerte er mit der lautesten Amtsstimme, die er aus den Tiefen seines mächtigen Brustkorbes herausbekommen konnte: »Was ist Ihr Begehr?«
Schnaufen und Keuchen war die Antwort. Dann ein leises Flüstern: »Ich suche den Stadtrichter!«
Frühauf donnerte wieder: »Sie stehen vor ihm.«
Täuschte er sich, oder war da der leichte Anflug eines Lächelns auf diesem grauen, mit einem Schweißfilm überzogenen Gesicht?
»Das trifft sich gut, denn ich habe etwas zu melden«, kam es mit leiser Stimme von seinem Gegenüber. Nach einer geraumen Zeit, als Valentin Frühauf schon ganz kribbelig beim Anblick dieses seltsamen Gesellen wurde, begann dieser in aller Ausführlichkeit zu erzählen. Dazwischen ging rasselnd sein Atem, und seine Hand fuhr über seinen verzerrten Mund, um den Speichel aus dem Mundwinkel zu wischen. Als er geendet hatte, wandte sich der Stadtrichter ruhig an den Schrannenschreiber, der sich im Nebenraum zur Verfügung hielt: »Geh, Gustl, schick mir den Urteilsschreiber und einen … wart … ist besser, gleich zwei von den Gerichtsknechten. Wir haben da was zu erledigen!«
Krispin, der langsam nähergekommen war, um das leise Flüstern zu verstehen, stand wie vom Donner gerührt. Dann auf einmal kam Leben in ihn und er machte sich auf schnellstem Wege auf in die Singerstraße.
*
»Geschieht mir ganz recht! Aber wo hab ich nur den Fetzen, den saubleden!« Johanna fluchte und war fast den Tränen nahe, als sie vom Klarissenkloster wieder nach Hause in die Singerstraße lief. »Wo nur hab ich den zum letzten Mal gesehen, verdammt noch einmal!« Schon wenn sie daran dachte, was ihr vor wenigen Augenblicken bei der hohen Dame, der Äbtissin, passiert war, trieb es ihr die Schamesröte ins Gesicht. Nicht nur, dass sie sich verplaudert und von dieser eigenartigen Stickerei, die sie zusammen mit den Briefen gefunden hatte, Katharina berichtete, nein, sie hatte dieses Stück Stoff doch tatsächlich irgendwo liegengelassen und konnte auf die Bitte der Äbtissin, ihr die Stickerei zu überlassen, nur dämlich grinsen und sich entschuldigen. So beschämend! Und jetzt sollte sie dieses Teil so schnell wie möglich heranschaffen, wo sie doch nicht einmal wusste, wo genau sie suchen sollte. Es war ja nicht vorauszusehen gewesen, dass dieses Stück Stoff so wichtig war! Angestrengt nachdenkend setzte Johanna einen Fuß vor den anderen und erkannte mit Grimm, dass nur eine an ihrem Dilemma schuld war: Nicht die hysterische Gretlin, nicht die schüchterne Elsbeth, nicht die alte Dorthe, die keifende Barbel oder die stumme Yrmel – nur eine war schuld, ihre eigene Wut. Diese Wut, die sie immer Taten setzen
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