Das gelbe Hurentuch: Hannerl ermittelt (Historischer Roman) (German Edition)
vor, dass der Patriarch sich selbst zum Ziel des Gespötts machte. Ewald ließ sich dennoch nicht täuschen: »Sie waren wohl gern hier und haben gute Erinnerungen an Wien?« Bernhard bedachte seinen Knappen mit einem eigentümlichen Blick und meinte etwas leiser: »Ja, ich war einfach jung, unbeschwert und draufgängerisch, eine gute Mischung, um die Stadt wirklich genießen zu können. Außerdem hat sich mein Schicksal erst später wie ein zentnerschweres Gewicht auf meine Brust gelegt. Damals war alles noch leicht, fröhlich und frisch.« Der Patriarch verstummte, und eine unangenehme Stille breitete sich aus. Keiner der Burschen traute sich, das Wort wieder aufzunehmen, und etwas verlegen blickten beide scheinbar gebannt zum Horizont und versuchten vergeblich, all das zu entdecken, was ihnen der Patriarch so begeistert gezeigt hatte. Bernhard, tief in Gedanken versunken, starrte zu Boden. Niemand wusste so recht, wie man mit diesem plötzlichen Stimmungsumschwung des alten Herrn zurechtkommen sollte, als plötzlich ein ohrenbetäubender Schrei vom Fuß der Anhöhe heraufschallte. Fast erleichtert wegen der Störung blickten die beiden Jünglinge auf. »Was soll denn das Gezeter da unten?«, meinte Sander fast scherzhaft. Bernhard von Randegg war jedoch der verzweifelte Unterton, das schrille Entsetzen, das in diesem Schrei mitklang, nicht entgangen. Alarmiert blickte er auf, zügelte sein Pferd und wandte sich an seine jungen Reisebegleiter: »Ihr bleibt mit dem Burschen hier oben und rührt euch nicht vom Fleck. Sobald ich weiß, was da passiert ist, gebe ich euch ein Zeichen, und erst dann dürft ihr nachkommen!« Betreten sahen ihm die beiden nach, als er im Galopp den Hügel hinunterritt.
Der Großteil der Reisegruppe hatte sich zu einer letzten Rast versammelt, um die Pferde zu tränken und selbst etwas zu essen. Viele Reisende, die vom Westen her kamen, nutzten diese kurze Verschnaufpause am Heuberg, bevor sie weiter durch den Wienerwald ritten, immer dem Fluss Wien entlang, um schließlich eine uralte Furt zu queren und die letzten Meilen nach Wien zurückzulegen.
Bernhard hielt sich jedoch nicht lang mit der Quelle auf, sondern ritt geradewegs auf die größere Menschenansammlung zu, die sich um einen kleinen Unterstand scharte, den man errichtet hatte, damit die Reisenden ihre Reittiere anbinden konnten. »Weg da, geht weg, macht, dass ihr da weiterkommt!«, schrie er schon von Weitem dem Gesindel zu. Stallknechte, Bedienstete und allerlei anderes Fußvolk sahen ihn aus schreckensgeweiteten Augen an. Lautlos traten sie zurück und gaben den Blick frei auf einen weiblichen Körper, den man kopfüber auf den obersten Holm des hölzernen Unterstandes gebunden hatte. Der Patriarch scheuchte die Schaulustigen weg so gut es ging, sprang vom Pferd und näherte sich dem Unglücksort. Der derbe Rock war der Frau über Beine, Gesäß und Hüften gerutscht und verdeckte ihren Oberkörper und ihren Kopf, der nur wenige Zoll über den Boden baumelte. Bernhard ging beherzt hin, schlug den Rock über die Blöße der Frau, hielt ihn mit der einen Hand fest, dass er nicht wieder herunterrutschen konnte und schnitt mit der anderen Hand die Lederriemen ab, die um ihre Knöchel gebunden und am Pfosten befestigt waren. Langsam ließ er den Körper zu Boden gleiten. Als der Kopf bereits die Erde berührte, erkannte er an der Totenstarre, die bereits eingesetzt und alle Körperteile erfasst hatte, dass die Frau schon Stunden hier gehangen sein musste. Sie musste den Tod gefunden haben, als er und seine Mitreisenden die Gastfreundschaft der Mönche im Kloster genossen hatten.
Als er den leblosen Körper sanft in das feuchte Gras gelegt hatte, besah er sich das blau angeschwollene Gesicht genauer. Die Augen waren hervorgetreten, die Bindehäute waren rot unterlaufen, und aus Nase und Mund waren dünne Rinnsale aus Blut zu sehen. Bernhard von Randegg hatte in seinem langen Leben schon so viele Tote gesehen, dass er dem verständlichen Schock, von dem alle Umstehenden befangen waren, entkam und sich nüchtern Gedanken machte. Nicht so wie die einfachen Leute, die ihren Blick nicht vom entstellten Gesicht der Leiche abwenden konnten. Grauen, Faszination und Ungläubigkeit standen in ihren derben Gesichtszügen geschrieben. Randegg musste zweimal fragen, bevor endlich jemand auf seine Frage: »Hat irgendjemand von euch etwas gesehen?«, überhaupt reagierte. Ein paar schüttelten den Kopf, einige bekreuzigten sich, und der
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