Das Geld - 18
hatte, ausgedörrt vom vielen Lesen, verwüstet vom Räsonieren – wie inbrünstig wünschte sie in den Stunden der Schwäche, sie wäre einfach und unbefangen geblieben wie er und könnte ihr blutendes Herz einschläfern, wenn sie des Morgens und des Abends dreimal das kindliche Gebet aufsagte, das die Nägel und die Lanze, die Dornenkrone und der Schwamm der Passion umrahmten.
Am Tage nach dem brutalen Zufall, der ihr Saccards Verhältnis mit der Baronin Sandorff offenbarte, hatte sie ihre ganze Willenskraft aufbieten müssen, um dem Verlangen zu widerstehen, die beiden zu überwachen und alles zu erfahren. Sie war schließlich nicht die Frau dieses Mannes, sie wollte auch nicht seine leidenschaftliche, bis zum Skandal eifersüchtige Geliebte sein; und ihr Elend war, daß sie sich ihm in der Intimität ihres dauernden Zusammenseins weiterhin nicht versagte. Das rührte von der friedfertigen, schlechthin liebevollen Art her, in der sie ihr Abenteuer zunächst betrachtet hatte: eine Freundschaft, die unvermeidlich zur körperlichen Hingabe geführt hatte, wie es zwischen Mann und Frau zu geschehen pflegt. Sie war nicht mehr zwanzig und nach den harten Erfahrungen ihrer Ehe sehr tolerant geworden. Wo sie mit sechsunddreißig Jahren so vernünftig war und sich aller Illusionen ledig glaubte, durfte sie da nicht ein Auge zudrücken und sich mehr als Mutter denn als Geliebte aufführen diesem Freund gegenüber, dem sie sich spät erst in einem Augenblick moralischer Verwirrung ergeben und der das Alter der jugendlichen Helden ebenfalls längs! überschritten hatte? Zuweilen sagte sie sich, daß man diesen Beziehungen der Geschlechter zuviel Bedeutung beimesse; sie seien oft nur zufällige Begegnungen, mit denen man dann das ganze Leben belastete. Sie mußte allerdings selber lächeln über das Unmoralische ihrer Bemerkung: waren dann nicht alle Fehltritte erlaubt, gehörten dann nicht alle Frauen allen Männern? Und dennoch, wie viele Frauen sind vernünftig und nehmen die Teilung mit einer Nebenbuhlerin hin! Die gängige Praxis siegte in glücklicher Gutmütigkeit über den eifersüchtigen Gedanken an den alleinigen, völligen Besitz! Freilich, das alles waren nur Theorien, um das Leben ertragen zu können. Frau Caroline mochte sich noch so sehr zum Verzicht zwingen und weiterhin die aufopferungsvolle Hausdame spielen, die Dienerin mit dem überlegenen Verstand, die willig ihren Körper hingibt, nachdem sie schon Herz und Hirn geopfert hat: das Fleisch, die Leidenschaft empörten sich in ihr; sie litt entsetzlich darunter, daß sie nicht alles wußte, daß sie nicht kurz entschlossen mit Saccard brach und ihm offen ins Gesicht sagte, welch fürchterliches Leid er ihr antat. Indessen hatte sie sich so weit bezwungen, daß sie schwieg, ruhig blieb und lächelte; nie in ihrem bisher schon so harten Leben hatte sie größerer Kraft bedurft.
Sie schaute sich noch einen Augenblick die Heiligenbilder an, die sie immer noch in Händen hielt, mit dem schmerzlichen Lächeln einer Ungläubigen, ganz gerührt vor Zärtlichkeit. Aber sie sah die Bilder nicht mehr, sie überlegte unwillkürlich, was wohl Saccard gestern getan haben konnte und was er heute tat, ihre Gedanken kamen nicht mehr zur Ruhe und kehrten instinktiv zu solcher Spioniererei zurück, sobald sie nicht mehr beschäftigt war. Saccard schien übrigens sein gewohntes Leben zu führen, morgens die Scherereien in seiner Direktion, nachmittags die Börse und abends die Einladungen zum Essen, die Premieren, ein Leben der Vergnügungen, Mädchen vom Theater, auf die sie keineswegs eifersüchtig war. Indessen spürte sie bei ihm ein neues Interesse, etwas, was ihm Stunden raubte, die er früher auf andere Weise ausgefüllt hatte; zweifellos war es diese Frau, seine Stelldichein mit ihr an irgendeinem Ort, den auszukundschaften sie sich versagte. Das machte sie argwöhnisch und mißtrauisch, gegen ihren Willen fing sie wieder an, »den Gendarmen zu spielen«, wie ihr Bruder lachend sagte, sogar in bezug auf die Geschäfte der Banque Universelle, die sie eine Zeitlang nicht mehr überwacht hatte, weil ihr Vertrauen einen Augenblick so groß geworden war. Ihr fielen Unregelmäßigkeiten auf, die sie bekümmerten. Dann war sie ganz überrascht, daß ihr das alles im Grunde gleichgültig war und daß sie nicht die Kraft zum Sprechen oder gar zum Handeln fand, so sehr war ihr Herz von einer einzigen Angst erfüllt, diesem Verrat, den sie hätte hinnehmen wollen, an dem sie
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