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Das Geld - 18

Das Geld - 18

Titel: Das Geld - 18 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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gesetzt, um einen Scheck auszufüllen, als er innehielt und überlegte. Er erinnerte sich an den Brief, den er bekommen hatte, an den Besuch, den er machen sollte und den er in seinem Unmut über die undurchsichtige Geschichte, die er witterte, von einem Tag auf den anderen verschob. Warum ging er eigentlich nicht gleich selbst in die Rue Feydeau und benutzte die Gelegenheit, die ihm einen Vorwand bot?
    »Hören Sie, ich kenne Ihren Halunken genau … Es ist besser, ich gehe mit dem Geld persönlich zu ihm und versuche, ob ich Ihre Wechsel nicht zum halben Preis einlösen kann.«
    Marcelles Augen leuchteten jetzt vor Dankbarkeit.
    »Oh, Herr Saccard, wie gütig Sie sind!« Und zu ihrem Mann gewandt, sagte sie: »Siehst du nun, du großer Dummkopf, Herr Saccard hat uns nicht aufgefressen!«
    Vor Rührung fiel er ihr um den Hals und küßte sie, denn ihr hatte er zu danken, weil sie in den Schwierigkeiten des Lebens, die ihn lähmten, energischer und geschickter war als er.
    »Nein, nein!« sagte Saccard, als ihm der junge Mann endlich die Hand drückte. »Das Vergnügen ist ganz meinerseits; es ist nett, daß Sie beide sich so gern haben … Gehen Sie unbesorgt nach Hause!«
    Sein Wagen, der auf ihn wartete, brachte ihn im Gedränge der Regenschirme mitten durch das schlammige Paris mit seinen spritzenden Pfützen in zwei Minuten zur Rue Feydeau. Oben aber klingelte er vergeblich an der alten Tür, von der die Farbe abblätterte und wo auf einem Kupferschild in dicken schwarzen Lettern das Wort »Streitsachen« prangte: sie öffnete sich nicht, nichts rührte sich im Innern. Und er wollte schon wieder gehen, als er in seinem lebhaften Ärger noch einmal heftig mit der Faust an die Tür schlug. Da ließ sich ein schleppender Schritt vernehmen, und Sigismond erschien.
    »Ach, Sie sind es! Ich glaubte, mein Bruder käme zurück und hätte seinen Schlüssel vergessen. Ich melde mich nie auf Klingeln … Oh, er wird bald kommen, Sie können auf ihn warten, wenn Sie mit ihm sprechen wollen.«
    Mit demselben mühsamen, schwankenden Schritt ging er, von dem Besucher gefolgt, in sein Zimmer zurück, das zum Place de la Bourse hinaus lag. In diesen Höhen über dem Nebel, mit dem der Regen die Straßen erfüllte, war es noch taghell. Der Raum war von kalter Nacktheit; sein schmales eisernes Bettgestell, sein Tisch und seine beiden Stühle, seine wenigen, mit Büchern überladenen Bretter waren das einzige Mobiliar. In dem kleinen Ofen vor dem Kamin hatte man vergessen nachzulegen, und er war erloschen.
    »Setzen Sie sich, Herr Saccard. Mein Bruder hat mir gesagt, er geht nur mal hinunter und kommt gleich wieder.«
    Aber Saccard blieb stehen und blickte ihn an, betroffen von den Zeichen fortschreitender Schwindsucht an diesem großen blassen Burschen mit den verträumten Kinderaugen, die sich unter der energischen, eigensinnigen Stirn so seltsam ausnahmen. Sein von lang herabfallenden Locken umrahmtes Gesicht war schrecklich abgezehrt, als wäre es länger geworden und strebte dem Grabe zu.
    »Sie waren krank?« fragte er, weil er nicht wußte, was er sagen sollte.
    Sigismond winkte gleichgültig ab.
    »Oh, wie immer. Die vergangene Woche war wegen des häßlichen Wetters nicht schön gewesen … Aber es geht trotzdem … Ich schlafe nicht mehr, ich kann arbeiten, und ich habe etwas Fieber, das hält mich warm … Ach, man hätte soviel zu tun!«
    Er hatte sich wieder an seinen Tisch gesetzt, auf dem aufgeschlagen ein Buch in deutscher Sprache lag. Und er fuhr fort:
    »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich mich setze, ich bin die ganze Nacht aufgeblieben, um dieses Werk zu lesen, das ich gestern bekommen habe … Ein Werk, jawohl! Zehn Jahre vom Leben meines Meisters, Karl Marx, die Untersuchung über das Kapital, die er uns seit langer Zeit versprochen hat … Da haben wir jetzt unsere Bibel, da!«
    Neugierig warf Saccard einen Blick auf das Buch, aber der Anblick der gotischen Buchstaben stieß ihn von vornherein ab.
    »Ich warte, bis es übersetzt ist«, sagte er lachend.
    Der junge Mann schien mit einem Kopfschütteln sagen zu wollen, daß es, selbst übersetzt, wohl nur von den Eingeweihten ergründet werden könnte. Das war kein Propagandabuch. Aber welche Kraft der Logik, welch sieghafte Fülle von Beweisen für den schicksalhaften Untergang unserer gegenwärtigen Gesellschaft, die auf dem kapitalistischen System beruht! Das Feld war frei, man konnte wieder aufbauen.
    »Ist das der Besen, mit dem Sie alles hinwegfegen?«

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